Serie Frauen in Schöneberg
Eva von Tiele-Winckler - Begründerin des Friedenshortes

  

Sicher kennen viele Friedenauer das Tiele-Winckler-Haus in der Handjerystraße 88, Ecke Albestraße. Hier wohnen erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und seelischer Beeinträchtigung. Im Tiele-Winckler-Haus finden sie ein Zuhause, in dem sie ihren Möglichkeiten entsprechend ein selbstbestimmtes und gemeinschaftliches Leben führen können. Das Tiele-Winckler-Haus ist nur eine von insgesamt sieben Einrichtungen der Tiele-Winckler-Haus GmbH in Berlin. Im ganzen Bundesgebiet und sogar im Ausland gibt es weitere Einrichtungen und Organisationen, die alle unter dem Dach "Friedenshort" arbeiten und sich in ihrem diakonischen Auftrag auf ihre Gründerin, Eva von Tiele-Winckler beziehen.

Eva von Tiele-Winckler wird am 31. Oktober 1866 in Miechowitz (Oberschlesien) geboren. Sie ist die zweitjüngste Tochter einer der wohlhabendsten deutschen Familien und wächst unter strenger Erziehung in einem großen Geschwisterkreis auf. Eva muss wohl ein besonderes Energiebündel sein, eine Charaktereigenschaft, die sie für die großen Aufgaben, denen sie sich später verpflichtet, gut gebrauchen kann. Als junge Frau, kurz vor ihrem 17. Geburtstag fährt sie zum Konfirmandenunterricht nach Berlin, hier findet sie nach vielen Wirrungen den Grundstein für ihren tiefen Glauben, auch wenn dies zunächst gar nicht danach aussieht: "Aus der Bodenluke des hohen Berliner Stadthauses kletterte eine schlanke Mädchengestalt heraus und schwang sich auf das Dach. Es war Eva von Tiele-Winckler, die eben dem Hofprediger vorgestellt worden war, um bei ihm den Konfirmandenunterricht zu erhalten. Sie beugte sich über das niedrige Geländer, welches das Dach umsäumte, schüttelte ihre Faust gegen den tief unter ihr dahinwandelnden Geistlichen und rief mit lauter Stimme: ´Ich lasse mir von dir meine Freiheit nicht rauben.´" (Margot Witte: "Erinnerungen an Eva Tiele-Winckler", S.24) Sie durchlebt eine Zeit, in der sie sich in ihren Grundfesten erschüttert fühlt: "Ich hatte nichts - keinen Grund unter den Füßen, keine Zukunft, keinen Himmel, keine Ewigkeit, keinen Gott. O wie suchte ich nach Wahrheit Tag und Nacht!" In der tiefsten Krise findet sie im Neuen Testament Zugang zu Jesus Christus im Bild des Hirten. Sie schreibt: "Im Geist sah ich, was ich früher kaum bemerkt hatte - die Not meiner Heimat, und ich wusste jetzt wozu ich lebte. Es gab Arbeit für mich in der Welt! Jesus Christus hatte mich gesucht, gefunden und berufen in seine Nachfolge und seinen Dienst."

Die Not ihrer Heimat, das ist das industrialisierte Oberschlesien, das sind die Menschen, die in den Bergwerken und Industrieanlagen arbeiten und oft in undenkbarer Armut leben. Gerhart Hauptmann, der Heimat- und Zeitgenosse Eva von Tiele-Wincklers, hat diese Zustände in seinem Drama "Die Weber" eindringlich beschrieben. Käthe Kollwitz, ebenfalls eine Zeitgenossin, hat die Armut und Hoffnungslosigkeit der Menschen dieser Zeit in ihren Bildern festgehalten.

Auf diesem Hintergrund entsteht aus ganz kleinen Anfängen das Lebenswerk Eva von Tiele-Wincklers. Zu-nächst erhält sie in Bielefeld-Bethel eine Ausbildung als Krankenschwester, zurück in Oberschlesien kann sie ihren Vater bald von der Dringlichkeit ihrer Arbeit überzeugen. Er baut das erste Haus "Friedenshort" in dem Eva zusammen mit Not leidenden Menschen ihres Dorfes lebt, hier bürgert sich bereits der Name "Mutter Eva" für die gerade erst 23jährige ein. Die Gründung einer Schwesternschaft und ihre Einsegnung zur Diakonisse folgen. Aus dem ersten Haus "Friedenshort" entsteht ein weit verzweigtes Netz von Einrichtungen, die insbesondere Kindern eine neue Heimat geben. 1913 gründet Mutter Eva die "Heimat für Heimatlose GmbH", die erste GmbH in der deutschen Diakonie. Bei all ihrer Tätigkeit und Arbeit oft über ihre Kräfte hinaus, war Eva von Tiele-Winckler ein Mensch der Stille und des Gebets. Viele Gedichte und Gebete aus eigener Feder geben Auskunft über ihren tiefen Glauben. Sieht man sich heute das Netz von Hilfseinrichtungen des Friedenshortes an, so hat sich das Bibelwort bewahrheitet, das sich Eva Tiele-Winckler einst als Leitstern für die eigene Arbeit gab: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt." (Mk. 9, 23). Am 21.6.1930 stirbt Eva von Tiele-Winckler, ihr Grab findet sich in Miechowitz, in "ihrer Heimat in Nebel und Rauch", wie sie sie in einem ihrer Lieder nannte.

Die Geschichte des Tiele-Winckler Hauses beginnt eigentlich schon 1884, denn hier wird in der Pücklerstraße 12 vom "Frauenbund zum guten Hirten" eine Zufluchtstätte für Mädchen gegründet. Aus der Zufluchtsstätte wird ein Mädchenheim, der Erwerb des Hauses Albestraße 8 im Jahr 1897 und der Bau eines separaten Waschhauses folgen. 1927 wird die Nachbarvilla Handjerystraße 88 hinzugekauft. Die Wäscherei dürfte noch einigen Friedenauern bekannt sein, denn bis 1984 wurde von den Bewohnern hier die Wäsche aus der Nachbarschaft gewaschen, im Hof getrocknet und anschließend mit dem Handkarren wieder ausgefahren. Die Wäscherei brachte einen guten Zuverdienst und den Bewohnern eine geeignete Tätigkeit. Heute besuchen viele der Bewohnerinnen und Bewohner eine Werkstatt für Behinderte oder eine Tagesförderstät-te.1970 wird aus dem Mädchenheim ein Wohnheim für Frauen mit geistiger und seelischer Behinderung, heute leben dort Männer und Frauen gemeinsam.
Wer sich für die Arbeit des Tiele-Winckler-Hauses in Friedenau interessiert, kann sich gerne mit Frau Lyongrün, der Leiterin der Einrichtung in der Handjerystraße in Verbindung setzen. Wer hier ehrenamtlich tätig werden möchte, ist herzlich eingeladen! Helfen können Sie natürlich auch durch Spenden, aber auch durch den Erwerb eines schönen Kalenders, der von Bewohnern des Tiele-Winckler-Hauses gestaltet wurde.

Freundeskreis des Tiele-Winckler-Hauses e.V.
Berliner Bank, BLZ 100 200 00
Kontonummer 29 29 09 70 00

Sie finden das Tiele-Winckler-Haus in der Handjerystraße 88, 12159 Berlin-Friedenau, Tel.: 851 19 68

Über die Arbeit des Friedenshortes gibt die Internetseite: www.friedenshort.de Auskunft. Hier können auch die bemalten Kreuze, die anlässlich des Kirchentages entstanden, besichtigt werden. Eine ganz reale Ausstellung soll folgen, wir werden darüber berichten.

© Doris Kollmann,
Stadtteilzeitung Schöneberg

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