Erinnern in Schönebergstolper0917.jpg (12068 Byte)
Am 16. September verlegte der Künstler Gunter Demnig, in Zusam-menarbeit mit dem Projekt "Stolpersteine", erstmals in Schöneberg Gedenksteine für von den Nazis deportierte und ermordete Schöneberger Juden. In derselben Nacht zerstörten Unbekannte die Gedenksteine in der Coubièrestraße.
"Stolpersteine", der Name ist Programm. Eine Form des Erinnerns, der kein Mensch einfach ausweichen kann. Sein Blick fällt zwangsläufig auf die messingfarbenen Steine auf dem Gehweg. Sie tragen die Namen von im Dritten Reich verschleppten und ermordeten Juden. 1992 begann das Projekt und wurde 1998 in Berlin-Kreuzberg übernommen. Über 500 Steine wurden seither in Berlin verlegt. Die Idee hierzu stammt von dem Kölner Künstler Gunter Demnig. Sein Anliegen war es, die Namen der Opfer des Nationalsozialismus ins Gedächtnis zurückzurufen, sie aus der Anonymität einer nicht zu fassenden Dimension herauszuholen und vor allem den jüngeren Generationen die tragischen Einzelschicksale der Opfer vor Augen zu führen.

Gunter Demnig versteht seine Arbeit, in Kooperation mit dem Projekt „Stolpersteine“ des Bürgervereins Luisenstadt e.V., als "handfesten Geschichtsunterricht". Daher wird die Verlegung der Steine stets mit Kindern und Zeitzeugen vorgenommen.
So wurden auch am 16. September die ersten Stolpersteine in Schöneberg zusammen mit Schülern der sechsten Klassen der Löcknitz-Grundschule verlegt. In der Coubièrestraße 16, dem ehemaligen Wohnsitz der Familie Dobkowsky verlegte Gunter Demnig zwei Steine für die Eltern von Ester Golan. Elsbeth und Aron Dobkowsky wurden am 5. November 1942 nach Theresienstadt deportiert. Aron Dobkowsky wurde drei Monate später in Theresienstadt ermordet. Seine Frau Elsbeth wurde 1944 in Auschwitz getötet. Ihre Tochter Ester, die zur Gedenkfeier als Zeitzeugin aus Israel angereist war, entkam damals 15jährig mit einem der letzten Kindertransporte nach Großbritannien.

Nachvollziehbarer Geschichtsunterricht

Die Gedenkfeier für die Eltern Ester Golans gestalteten vor allem die Schüler der Löcknitz-Grundschule. Vor den neu verlegten Steinen verlasen sie die Opferbiographien und sangen "Hevenu shalom alejchem" (Wir wollen Frieden für alle). Auch hatten sie die Möglichkeit, Fragen an Ester Golan zu stellen.
Die Zeit des Nationalsozialismus gehöre zwar noch nicht zum Geschichtsunterricht in der sechsten Klasse, doch Interesse für diese Zeit besteht bei den Schülerinnen dennoch, erklärten Anja, Christin und Marlen. Geweckt wurde dieses Interesse nicht zuletzt durch die vielen Schilder im Bayerischen Viertel, die auf die juristische Diskriminierung der Juden im Nationalsozialismus verweisen. Aber auch die Löcknitz-Schule selbst, so berichten die drei, tut eine Menge, um die Erinnerung an ehemalige jüdische Mitbürger im Bezirk wachzuhalten. Seit 1994 beschriften Schüler der sechsten Klassen Steine mit Namen ehemaliger jüdischer Mitbürger des Bezirks und fügen diese einem Denkmal auf dem Schulhof hinzu. Die Geschichte wird somit nicht nur für Kinder nachvollziehbarer. Ein Grund, warum auch das Interesse an dem Projekt Stolpersteine stetig wächst.
Ein Tipp vom Hauseigentümer

Ester Golan selbst dankte allen Beteiligten, vor allem aber Stefan Krikowski, dem Initiator der Stolpersteinverlegung in Schöneberg. Stefan Krikowski, ein langjähriger Bekannter Ester Golans, initiierte am gleichen Tag eine zweite Gedenksteinverlegung in Schöneberg. In der Belziger Straße 30 verlegte Gunter Demnig drei Steine für Elfriede, Erna und Gertrud Apt. Die drei Schwestern lebten, bis zu ihrer Verhaftung, in der Belziger Straße 30. Von einem Nachbarn denunziert, wurden sie verhaftet und am 17. November 1941 nach Kowno (Litauen) deportiert. Sie gelten als verschollen.
In einem Gespräch mit dem Hauseigentümer der Belziger Straße 30 erhielt Stefan Krikowski den ersten Tipp. Hierauf stellte er umfangreiche Recherchen zum Schicksal der drei Schwestern an, verglich alte Straßenkarten und forschte nach Namen in den Gedenkbüchern. Schließlich setzte er sich mit dem Leiter des Projekts Stolpersteine Herrn Holl in Verbindung. Weitere Mieter, der Hauseigentümer und der Hausmeister unterstützten Herrn Krikowski in seinem Vorhaben. Ein vorbildliches aber, wie Stefan Krikowski findet, ungewöhnliches Verhalten. Vom pädagogischen Ansatz der Initiative ist Herr Krikowski indes überzeugt. Kinder, so meint er, die hier freiwillig teilnehmen, seien "geimpft". Eine Ansicht, die auch der Leiter des Projekts Stolpersteine Herr Holl teilt.

Ein "politischer Akt"

Daß Antisemitismus und Rassismus tatsächlich keine Themen aus der Vergangenheit sind, stattdessen immer noch ein aktuelles Problem auch in Schöneberg darstellen, wurde knapp zwölf Stunden nach der Verlegung der Gedenksteine in der Coubièrestraße deutlich.
stolper0922.jpg (9934 Byte)In der Nacht zum 17. September brachen Unbekannte die Gedenksteine aus dem Pflaster, zerstörten sie und warfen sie anschließend ins Gebüsch.
Diese ungeheuerliche Tat ist, wie Stefan Krikowski mitteilt, ein "politischer Akt". Es wurde Strafanzeige erstattet. Gegenwärtig ermittelt die Polizei gegen Unbekannt.
Ebenso wie die Initiatoren des Pro-jektes war die Redaktion der Zeitung erschüttert von der dumpfen Gewalttätigkeit, die als Sprache nur die Zerstörung kennt. Gerade dieser barbarische Akt hat gezeigt, wie wichtig das Erinnern an unsere jüdischen Nachbarn von einst und das Lebendighalten ihrer Namen im Gedächtnis der Stadt sind. Es gibt viele Gelegenheiten des Gedenkens, die nächste wird sicherlich die erneute Verlegung der Steine sein. Wir werden Sie über Ort und Zeit informieren.
        
Sebastian Gülde
Praktikant bei der Stadtteilzeitung


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