Das Leben im Kiez mit den drei Ecken

"Die Rote Insel" - Collage von Sandra Scheffler Man kann es sich kaum vorstellen, aber vor rund 200 Jahren war Schöneberg ein kleines Dorf, in dem sich Kühe und Schweine "Gute Nacht" sagten. Die erste grundlegende Veränderung in diesem Gebiet geschah in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zunächst erwarb das Militär 1828 einen Teil des heutigen Insel-Gebietes, da das Tempelhofer Feld als Übungsgelände nicht mehr ausreichte. So kam die Kolonnenstraße zu ihrem Namen - hier marschierten im wahrsten Sinne des Wortes die Kolonnen der Garnisonen.
Der Bau der Anhalter Bahn 1841 förderte die Entstehung der Insellage. Mangels eines Bahnhofes konnten die Anwohner die Bahnlinien aber nicht nutzen. Interessant als Wohngebiet wurde die "Insel" mit dem Bau der Stadt- und Ringbahn in den Jahren 1871-77. Nun hatte man von Schöneberg aus Anschluss an die Industriegebiete und anderen Vororte. 1870 entstand auf einem schmalen Ackerstreifen die von der Kolonnenstraße nach Süden führende Sedanstraße mit einfachen Häusern sowie drei- bis vierstöckigen Wohnhäuser mit Seitenflügeln. In der Nr. 64 erblickte 1901 Marie Magdalene Dietrich, genannt Marlene, das Licht der Welt. Eine Gedenktafel in der heutigen Leberstraße 65 erinnert an die später weltberühmte Schauspielerin und Sängerin.
Die weitere Urbanisierung des Gebietes machte einen großen Schritt, als in den Jahren 1884 und 1888 die "Insel" an die "Charlottenburger Wasserversorgung" und an die Abwasserentsorgung angeschlossen wurde. Es entstanden zahlreiche Ein- bis Zweizimmerwohnungen, die Goten- und die Cheruskerstraße wurden gebaut. Auch der Bau der Gustav-Müller- und der Naumannstraße in den Jahren 1905 bis 1906 zog die Errichtung weiterer Mietskasernen mit sich.
Nicht zu übersehen ist das Wahr-zeichen der "Roten Insel" - der unter Denkmalschutz gestellte Gasometer in der Torgauer Straße. Ursprünglich vier seiner Sorte wurden 1910 von der englischen Firma "Imperial Continental Gas Association" auf dem Gelände erbaut.

Setzte sich die Bevölkerung zur Jahrhundertwende überwiegend aus Beamten, Handwerkern und kleinen Angestellten zusammen, änderte sich die Struktur im Laufe der Jahre. Das Arbeiterwohngebiet gab als Hochburg der SPD und KPD der "Roten Insel" ihren Namen. Viele ihrer Parteiangehörigen und Sympathisanten wurden Opfer der Nationalsozialisten, deren Terror sich besonders nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 auf Schöneberg konzentrierte. Viele von ihnen wurden in das Tempelhofer KZ Columbia-Haus oder das KZ General-Pape-Straße verschleppt und erschlagen.

Der frühere Reichstagsabgeordnete Dr. Julius Leber (1891-1945) konnte nach langjähriger KZ-Haft durch die Hilfe ehemaliger SPD-Funktionäre in der Torgauer Straße 20 als Kohlenhändler wieder Fuß fassen. Der frühere Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss besuchte mehrfach den Widerstandskreis um Julius Leber: "Die zwei kleinen Zimmer in dem fragwürdigen Häuschen, …, waren eine rechte Verschwörerbude. … in der Hinterstube, auf verhockten Sesseln, hatte die politische Leidenschaft ihre Herberge, verachtender Hass und brennende Liebe." Von hier aus arbeitete Leber in engem Kontakt zum Kreisauer Kreis an den Umsturzvorbereitungen zum 20. Juli 1944. Am 4. Juli wurde Leber verhaftet und am 5. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet. Heute erinnert eine Gedenktafel an der Julius-Leber-Brücke (Kolonnenstraße) an den Politiker.
Anett Baron, ehrenamtl. Redakeurin

Literatur:
Stefan Eggert: Spaziergänge in Schöneberg, Berlin 1997.
Veronika Liebau, Petra Zwake (Hrsg.): Schöneberg in historischen Postkarten, Berlin 1998.
Christian Simon: Schöneberg im Wandel der Geschichte, Berlin ‘98.
Heinrich-Wilhelm Wörmann: Widerstand in Schöneberg und Tempelhof, Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Hrsg.), Berlin ‘02.


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