Jenseits des Schnäppchen-Hinterlandes

Kurz hinter den etablierten Einkaufsmeilen liegt das Schnäppchen-Hinterland. Hier kann man alles für einen Euro kaufen! Na ja, alles vielleicht nicht, aber darauf kommt es dabei wohl auch nicht an, eher auf das Kaufen an sich. Hier kann man sich noch so richtig dem Konsumrausch ergeben, inzwischen sogar in noblem Ambiente, denn seit kurzem ist die Filiale des Möbelhaus "Ligne rose" an der Rheinstraße 44 einem weiterem Schnäppchen-Paradies gewichen. Statt exklusiver Möbel kann man dort nun Spülbürsten und Magnethalter ergattern. Hier wird sozusagen im Kleinen deutlich, was uns die Soziologen schon länger erzählen: Die Konsumgesellschaft läuft sich tot. Nach der Markenschlacht der letzten Jahre, nachdem Aldi und Tchibo uns so wunderbar mit den Artikeln der großen weiten Luxuswelt versorgten (Golfschläger und MP3-Player, jede Woche eine neue Welt!) implodiert das Ganze einfach. Die, die noch nie das Geld hatten, an der wilden Konsumjagd teilzunehmen, fielen schon vorher raus und die "Besserverdienenden" machen das Portemonnaie einfach zu.
Aber was kommt dann? Schon wird eine neue Sinnkrise heraufbeschworen: Wenn wir nicht mehr kaufen können, was dann? Sicher, zur Not noch die Spülbürste, aber reicht das aus um sich im Glanz seiner Besitztümer selbst zu finden? Die Soziologen trösten uns: Gerhard Schulze sieht statt einer habens-versessenen eine seins-orientierte Gesellschaft am Horizont auftauchen, Matthias Horx freut sich in der Berliner Zeitung auf die neue Qualität einer zukünftigen Gesellschaft, in der menschlichere, femininere Lebensentwürfe möglich werden, Väter sich mehr um ihre Kinder kümmern statt Geld und Ruhm hinterher zu jagen, man vielleicht mit 50 nochmal alles umwirft und sich eine völlig neue Betätigung sucht, tja, und wir Frauen können uns dann sowieso unseren Lebensstil aussuchen. Schön wär´s.

Diesen großen Entwürfen möchte ich noch eine kleine, nennen wir es "Entdeckung" hinzufügen. Diese Entdeckung ist die der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft meiner Mitmenschen. Die anonyme Großstadt bekommt plötzlich ein menschlicheres Gesicht. Die Leute haben wieder mehr Zeit füreinander. Diese Entdeckung würde ganz gut zu einer Studie passen, die der amerikanische Psychologe Robert V. Levine über lange Jahre weltweit durchgeführt hat und deren Ergebnisse nun vorliegen. Er wollte herausfinden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Großstädter einem Unbekannten in einer Notsituation beistehen. Obwohl es einige Abweichungen gab, lässt sich doch zusammenfassend sagen, dass die Städte der reicheren Länder durchweg schlecht abschnitten. Die freundlichsten und hilfsbereitesten Bewohner gibt es der Studie nach in Rio de Janeiro, diesem Moloch von Stadt. New York landete auf dem vorletzten Platz. Berlin wurde von Levines Team leider nicht besucht. Vielleicht sollte man ihn mal nach Friedenau einladen, genauer in die Ceciliengärten, denn da hab´ ich neulich meine Entdeckung gemacht.
Der Morgen, Georg Kolbe 1925
Die Entdeckung einer eigentümlichen Verschiebung der Zeit. Sommerferien, heiße Mittagzeit, die Stadt pochte irgendwo im Hintergrund, aber hier auf meiner Parkbank war es kühl und still. Ich konnte von meinem Platz aus den Abend und den Morgen zugleich sehen. Das geht wirklich nur in den Ceciliengärten, denn hier stehen die gleichnamigen Figuren des Bildhauers Georg Kolbe und sehen einander an. Die Stille wurde nur unterbrochen von einem Opa, der vergeblich versuchte seine Vespa zu starten. Ein paar Jungs in kurzen Hosen standen an, um auch mal auf der Vespa sitzen zu dürfen. Barfuss, denn sie hatten grade mit einem großen schwarzen Hund im Becken des Springbrunnens geplanscht. Der Hund wiederum gehörte einem bärtigen Mann, der zwei kleinen Mädchen haarklein erklärte, wie sie ihre verzottelte Promenadenmischung kämmen sollten. Zeit - hier gab es viel davon. Die Sommerferienstimmung war so fett, dass man sie sich fast aufs Butterbrot schmieren konnte.

Plötzlich startete die Vespa, Opa rutschte fast die Brille von der Nase. Schwungvoll setzte er sich auf die Kiste und knatterte stolz ein paar Runden um den Block. "Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt…" Glücklicherweise war das Benzin gleich alle und die eigentümliche Stille der Mittagstunde spannte sich wieder aus zwischen dem Morgen und dem Abend in den Ceciliengärten. Der bärtige Mann wurde von seiner hübschen Frau abgeholt. Zeit zu gehen.

Der Abend, Georg Kolbe 1925 Der amerikanische Psychologe Levine hat übrigens festgestellt, dass in Lebenszusammenhängen, in denen der Zeittakt langsamer schlägt, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft deutlich zunehmen. Und damit wären wir wieder am Anfang, denn wenn wir unsere Zeit nicht mehr damit verplempern müssen, überflüssige Spülbürsten zu kaufen, entdecken wir vielleicht jenseits des Schnäppchen-Hinterlandes etwas, das man Lebensqualität nennt. Lebensqualität ganz ohne Geld.

© Doris Kollmann, Stadtteilzeitung Schöneberg, ehrenamtliche Redakteurin

Horx, Matthias: Die entzauberte Zu-kunft. In: Berliner Zeitung, Magazin, Ausgabe 2./3.08.2003

Levine, Robert V.: Hilfsbereitschaft unter Fremden. In: Spektrum der Wissenschaft, Heft 08/2003. Sie können den Beitrag im Internet unter http://www.americanscientist.org/content/AMSCI/AMSCI/ArticleAltFormat/200385121447_307.pdf downloaden. (Achtung! Auf Groß- und Kleinschreibung achten!)

Nachtrag:

Die Untersuchung die Levine durchführte, basierte auf drei einfachen Tests. Würden die Bürger der untersuchten Städte einem Fremden einen Stift leihen, ihm heruntergefallene Zeitungen aufheben, wenn er es offenbar wegen eines geschienten Beines nicht selbst konnte und  ihm bei offensichtlicher Blindheit über die Straße helfen? Diese Tests führten Studenten aus, die sich entsprechend verkleideten oder verstellten. In Tokio musste übrigens der gesamte Test abgebrochen werden - der Student der ihn durchführte, fühlte sich angesichts der dort herrschenden Freundlichkeit so miserabel, dass er die zuvorkommenden Japaner nicht weiter hinter´s Licht führen wollte. Dass Rio den ersten Platz erreichte, wunderte meinen netten Nachbarn, einen Brasilianer, gar nicht, denn in Brasilien ist ein Mensch der "sympatico" also freundlich und hilfsbereit ist, sozial hoch angesehen. Wien belegt Platz 5, Madrid 6, Kopenhagen 7, Rom 16, Amsterdam 20, New York den 22. Platz.


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