Der Viktoria-Luise-Platz

Egal, ob wir aus der U-Bahn oder aus einer der Seitenstraßen kommen, der Viktoria-Luise-Platz ist eine angenehme Unterbrechung unseres Weges. Im Sommer empfängt uns eine angenehme, kühlende Brise von der Fontäne. Blumen erfreuen das Auge und die schattenspendenden Bäume laden zu einer kleinen Pause ein. Sechs Straßen münden hier ein und begründen die sechseckige Form des Platzes.
Doch von oben betrachtet erinnert die sechseckige Form des Platzes an ein Ei! Eingerahmt von dekorativem Grün (oder, jahreszeitlich bedingt, schützendem Gehölz), wartet dieses Ei auf seine Entdeckung.

Rückblick

Der Platz, der den Namen der Tochter des letzten Kaisers trägt, entstand in einer Zeit, als die Großstadt Berlin Richtung Westen wuchs. Die Einwohnerzahl Schönebergs hatte sich zwischen 1880 und 1890 verdoppelt. Hauptsächlich zogen Militärs, höhere Beamte und Geschäftsleute zu, genau die Schicht, die das Wohnen mit Repräsentationspflichten verband. 1898 erhielt Schöneberg das Stadtrecht und nahm 1903 unter den Städten Preußens, die über 50.000 Einwohner aufwiesen, den fünften Platz bei den Steuereinnahmen ein.

Die "Berlinische Bodengesellschaft" war Eigentümerin des gesamten Areals. Zur besseren Vermarktung wurde zunächst die gartenarchitektonische Gestaltung des Platzes durchgeführt. 1899 wurde nach dem Entwurf von Fritz Encke, der zu den Reformern unter den Gartenbauarchitekten zählte, weil er nicht nur repräsentative, sondern auch der Erholung dienende Anlagen geschaffen hat, der Platz so angelegt, wie wir ihn in seinen Grundzügen heute noch kennen: Linden und Kugelbüsche, Springbrunnen und Kolonnaden. Er nannte seinen Entwurf "Ruhe".

Die Bebauung rings um den Platz entsprach dem Geschmack der Zeit: Neben damals modernen Jugendstilgebäuden gab es auch den für diese Zeit üblichen Rückgriff auf vergangene Epochen. "Klein-Nürnberg" wurde die Umgebung genannt, weil Anleihen und Zitate aus der Baugeschichte bis zurück zur Renaissance verwendet wurden.
Weder die Berlinische Bodengesellschaft mit ihrem Hauptgesellschafter Georg Haberland noch die Stadtverwaltung nahmen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung. Dem Einen ging es um den Gewinn, den Anderen um den Bevölkerungszuwachs und damit steigende Steuereinnahmen. Später, bei der Planung des Bayerischen Platzes, zerstritten sich diese am Bau Beteiligten. Doch das ist eine andere Geschichte ...

1910 wurde die U-Bahn gebaut. Hierfür mussten Teile der Platzfläche ausgeschachtet werden, weil noch nicht die heutigen technischen Möglichkeiten, wie z. B. Schildvortrieb, zur Verfügung standen. Die um den Platz führende Straßenbahnlinie wurde langfristig überflüssig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als überall die Last des Wiederaufbaus rein ästhetische Aspekte in den Hintergrund treten ließ, wurde der Platz instandgesetzt. Statt des alten Erschließungskonzeptes gab es nur einen Weg zur möglichst kurzen Überquerung.

Erst 1979 wurde im Rahmen einer Neugestaltung unter Berücksichtigung denkmalpflegerischer Vorgaben die Platzanlage in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt. Seit 1982 steht sie offiziell unter Denkmalschutz. Die Überlegung, verkehrsberuhigte und für die Straßenverkehrsnutzung entwidmete Bereiche rund um den Platz zu schaffen, geht ebenfalls auf diese Zeit zurück und wurde in den Folgejahren umgesetzt.

Kleiner Rundgang

Am Viktoria-Luise-Platz Nr. 1 befindet sich das Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde "Zum Heilsbronnen". Das 1989 entstandene Gebäude hat zur damals angestrebten "Stadtreparatur" beigetragen, d. h. die alte Form der Stadtstruktur sollte wiederhergestellt werden. Das städtebauliche Leitbild einer offenen Zeilenbebauung, wie sie am Bayrischen Platz vorhanden ist, galt als überholt. Heute finden hier die für eine Kirchengemeinde üblichen Aktivitäten statt: Angebote für Kinder und Erwachsene mit unterschiedlicher Thematik.

Am Viktoria-Luise-Platz Nr. 6 ist der Eingang zu einer Institution, die sich im gesamten Blockinnenbereich bis zur Geisbergstraße erstreckt: Der Lette-Verein. Bei seiner Gründung hieß er noch "Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts" und war damit eine besonders fortschrittliche Einrichtung. Heute ist der Lette-Verein eine Berufsfachschule für verschiedene Ausbildungsgänge: Fotographie, Grafik und Modedesign. Die Schule genießt immer noch - auch überregional - einen guten Ruf.
Die älteren Gebäude auf diesem Grundstück, einschließlich des Straßenseitigen, wurden von Alfred Messel geplant und 1902 errichtet. Er hat zu seiner Zeit das Stadtbild durch große Bauvorhaben (Pergamon-Museum oder Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz) geprägt und mit Projekten wie z. B. dem Reformmietshaus neue Wege im Wohnungsbau aufgezeigt. Hier am Viktoria-Luise-Platz schuf er eine klassisch gegliederte Fassade mit einem auffälligen Portal, die sich von den damals oft zu üppig geratenen Gestaltungselementen an anderer Stelle wohltuend abhob.

Am Viktoria-Luise-Platz Nr. 9 hat das Institut für Erfahrbaren Atem seinen Sitz, auch bekannt unter dem Namen seiner Gründerin, Ilse Middendorf. Sie entwickelte eine weltweit anerkannte Heilmethode, die auf bewusster Beeinflussung und Wahrnehmung der Atembewegung basiert.

Am Haus Nr.11 schließlich erinnern zwei Gedenktafeln daran, dass sowohl
Ferruccio Busoni ( als Sohn einer Pianistin und eines Klarinettisten wurde er als Wunderkind am Klavier bekannt. Später hatte er Erfolg als Komponist. In Schöneberg verbrachte er seine letzten Jahre.) als auch
Billy Wilder ( Ich sage nur: "Manche mögen`s heiß!") vor dem Zweiten Weltkrieg in dem Gebäude wohnten, das an dieser Stelle stand.
Auch andere Künstler und Kultur-schaffende fühlten sich von der Gegend angezogen: Claire Waldoff ( "Wer schmeißt denn da mit
Lehm" oder "Hermann heeßt er") wohnte zeitweise in der Regensburger Straße, der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch, bekannt geworden für seinen Reportagestil, der sich durch distanzierte Sachlichkeit auszeichnete, in der Hohenstaufenstraße.

Wer weiß, welche Inspirationen für all diese Menschen vom Viktoria-Luise-Platz ausgingen? Und für die heute hier Lebenden noch ausgehen werden?

Marina Naujoks
ehrenamtliche Redakteurin


 Februar 2004 - zurück zum Inhaltsverzeichnis