"Sie betreten jetzt den schwulen Sektor Berlins!"
 
 
Verschlägt es einen in das Dreieck der von der Motz- und Kleiststraße begrenzten kleinen Straßen hinter dem Nollendorfplatz, dann fällt einem ein besonderes Flair auf, das man an den Straßencafés festmachen könnte oder an den vielen kleinen Läden mit den interessanten und manchmal etwas schrägen Angeboten. An warmen Sommertagen kann man sich fast in südländischer Atmosphäre wähnen: die Sonne umkreist das in Ost-West-Richtung "liegende" Dreieck und flutet die Straßen mit ihrem Licht. Vielleicht ist sie es, die die Bewohner der alten Schöneberger Häuser auf die Straßen lockt, so dass man den Eindruck gewinnt, hier fände mehr Leben im Freien statt als in anderen Berliner Straßen. Die, die es nicht sowieso wissen, bekommen bald den Eindruck, diese Bewohner gehörten mehrheitlich dem männlichen Geschlecht an, und das mag ja auch so sein. Mitte der 80er zierte sogar ein Schild den U-Bahnhof Nollendorfplatz: "Achtung, Sie betreten jetzt den schwulen Sektor Berlins!"

Die sich seit der Weimarer Republik ausweitende Homosexuellenszene hatte hier einen ihrer Schwerpunkte, Schwulen-, Lesben- und Transvestitenlokale wie das "Eldorado" lockten Nachtschwärmer aller Geschlechter an, und viele schwule und lesbische KünstlerInnen nahmen ihren Wohnsitz rund um den Nollendorfplatz. Deutschland wurde ein Vorreiter der Schwulen- und Lesbenbewegung. Das alles fand ein grausames Ende in der Zeit des Nationalsozialismus, und es bedurfte wiederum vieler Kämpfe und Aufklärungsarbeit im Nachkriegsdeutschland und der Unter-stützung der in der Zwischenzeit vor allem in den USA und den Niederlanden erstarkten Schwulen- und Lesbenbewegung, um die Anerkennung und die Rechte der Homosexuellen auch in Deutschland durchzusetzen. Um die endgültige Gleichberechtigung wird immer noch gerungen.

Inzwischen wird aber auch bei uns der Christopher-Street-Day gefeiert mit einer Parade zu Ehren und zur Erinnerung an die Straßenschlachten, die sich 1969 die New Yorker Schwulen und Lesben mit der Polizei lieferten. Und auch in der Bevölkerung hat allmählich ein Bewusstseinswandel stattgefunden - wie lässt es sich sonst erklären, dass seit nunmehr 12 Jahren Hunderttausende von Berlinern und Berlinerinnen (im vorigen Jahr waren es 350.000!) im Juni in den "schwulen Sektor Berlins" strömen, um sich nicht nur über die, sondern auch mit denen “vom anderen Ufer" zu amüsieren? Klar, es macht Spaß, die aufgedonnerten Dragqueens zu bewundern und zu belächeln (manch eine Frau wünscht sich auch einmal den Mut, derartig auf den Putz zu hauen!) oder sich über knutschende Männer zu mokieren (haste die jesehn? Mensch, is det peinlich!) Aber es gibt auch genug Gelegenheiten für Gespräche mit "ganz normalen" Lesben und Schwulen und die Möglichkeit, Vorurteile abzubauen.
Keines der zahlreichen Berliner Straßenfeste bietet eine derartig überschäumende Freude und Lebenslust und über Currywurst und Chinapfanne hinausgehende exotische Spezialitäten; hier kann man sich die Haare schneiden oder die tollsten Frisuren verpassen lassen oder ganz ungeniert und wie zufällig einen Blick in den kleinen Sexshop werfen, kann Cheerleader-Jungs puscheln sehen und Chansonetten beiderlei Geschlechts röhren hören, oder auch eine alte Klassenkameradin treffen (dachte mir doch schon immer, dass die lesbisch ist, und 'ne nette Frau hat sie dabei!) Man kann sich aber auch informieren, wie sich die Mitglieder der "Queer-Community" gegenseitig unterstützen: die Überschüsse aus dem Fest werden von den Organisatoren, dem sog. "Regenbogenfonds der schwulen Wirte e.V." für kulturelle oder gemeinnützige Zwecke im schwullesbischen Bereich zur Verfügung gestellt - in diesem Jahr auch für die Aufwertung eines Spielplatzes im Kiez (den Bierstand Fugger- Ecke Eisenacher Str. reichlich besuchen!) - und der "Rainbow-Award" wird an Gruppen oder Personen vergeben, die sich für lesbische und schwule Anliegen einsetzen, wobei es nur zu oft um die Sicherheit der Schwulen geht. So stand das erste lesbisch-schwule Fest im Sommer ‘93 unter dem Motto "Gemeinsam sicher leben", und leider ist das schwule Überfalltelefon noch immer nicht überflüssig geworden...

Gehen wir also hin am 19./20 Juni, feiern wir gemeinsam, haben unseren Spaß an den "Krawalltucken" und nutzen wir die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Und hören wir uns an, was unsere Politiker zum Thema zu sagen haben!

12. Lesbisch-Schwules Stadtfest Berlin am 19. und 20. Juni 2004 rund um den Nollendorfplatz.
Weitere Infos unter www.regenbogenfonds.de

Sigrid Wiegand
Stadtteilzeitung Schöneberg

Juni 2004  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis