Steglitzer Schloßparktheater neu eröffnet:
Pinkelstadt - das Musical

Revolution made in USA

Ein Musical im Schloßparktheater?? Unser Schmuckstück in Steglitz mit den großen alten Barlogzeiten: Klaus Kammer, Joana Maria Gorvin, Carl Raddatz; Giraudoux mit Hermine Körner, Anouilh mit Martin Held - Besetzungslisten, bei denen einem heute die Augen übergehen! Dann die Staatstheaterzeiten unter Lietzau - alles lange her. 1993 endgültig Schluß mit den Staatlichen Schauspielbühnen und weiter als Privattheater mit staatlichen Zuschüssen, nach deren Kürzung das Haus 2002 schließen mußte.

In Steglitz war es ruhig geworden.
Das soll jetzt anders werden. Ein neues Regie- und Produktionsteam hat sich des kleinen, feinen Hauses angenommen: die TOYS THEATER GmbH überzeugte den Senat mit ihrem künstlerischen Konzept und erhielt den Zuschlag zur Bespielung des Hauses ab Oktober 2004. Und eröffnet ihre erste Saison gleich mit einem Paukenschlag: PINKELSTADT - DAS MUSICAL! Im amerikanischen Original heißt es "Urinetown", Übersetzungsversuche von Urinienburg bis Schifferstadt scheinen auch nur Notlösungen. Nun denn also: Pinkelstadt. Immerhin lief das Musical 3 lange Jahre mit großem Erfolg am Broadway, heimste viele begehrte Preise ein, das Team der deutschen Fassung hat prominente Erfahrungen und Preise vorzuweisen.

Dann kann es ja nicht so schlimm sein, dachte sich die musicalunkundige Rezensentin und machte sich auf den Weg in die Schloßstraße, um sich überraschen zu lassen. (Vorweg: das Schloßparktheater hübsch renoviert, Spiegel und zarte Farben im Foyer, passend zur schönen Jugendstiltreppe am hinteren Eingang zum Zuschauerraum. Der allerdings ein kleiner Schock: eine schmucklose schwarze Schachtel, dazu - aber sonst zu nichts - passend ein leuchtend roter Plüschteppich. Wer sich das wohl ausgedacht hat? Immerhin, die Sitze sind gut. Da sitzt man nun und harrt der Dinge, die da kommen. Und sie kommen heftig. Während wir noch nach unseren Plätzen suchen, wird schon mit Taschenlampen von der Bühne herunter nach Sündern gesucht, die sich seitwärts in die Büsche schlagen wollen, um die "Pinkelgebühr" zu sparen. Ein Öko-Musical also: das Wasser ist knapp geworden, und private Toiletten sind verboten, man muß die öffentlichen benutzen, die fest in privater Hand und teuer sind. Manch eine(r) muß sich die letzten Groschen erbetteln: "Jeder Strahl hat seinen Preis!" ("It's a Privilege to Pee!") - man stelle sich vor! Es geht gleich los mit einem kleinen Feuerwerk vor der Bedürfnisanstalt Nr. 9, es wird geklagt und geschimpft, gesungen und getanzt in bester Musicalmanier, witzig und spritzig, und ein Erzähler macht uns im Dialog mit einer cleveren Straßengöre (ausgerechnet Klein-Erna!), hervorragend gespielt von Katharine Mehrling, mit der Rahmenhandlung vertraut. Die Zuschauer ziehen sofort mit, es wird gelacht und gejubelt, auffällig schnell und viel für das normalerweise eher lahme Berliner Publikum. Da wurde wohl etwas nachgeholfen. Aber Begeisterung steckt an. In der Pause hört man animierte Stimmen: "Der Wortwitz, köstlich!" - "Das ist doch mal ein Spaß!" - aber auch: "Um im Jargon zu bleiben: wir verpissen uns!" - das aber eher eine Ausnahme. Im 2. Teil kommt es, wie es kommen muß: die Armen tun sich zusammen, um sich gegen den Ausbeuter zu wehren, und natürlich verlieben sich ihr Anführer und des Kapitalisten Töchterlein ineinander.

Aber irgendwann kommt man etwas durcheinander: wer sind denn nun die Guten, wer die Bösen? Die revolutionären Massen ballen die Fäuste und schwenken Transparente, wie es sich gehört, und eine (graue!) Fahne. Sie wollen aber nicht so recht die Sympathieträger werden, sondern die Geisel, des Kapitalisten Töchterlein, töten. Und der große böse Kapitalist zeigt Verletzungen und Empfindlichkeiten und will verständlicherweise der Jäger und nicht der Hase sein. Der Erzähler warnt: das ist kein lustiges Musical! Und wer's nicht glauben will, staunt zum Schluß, daß alle tot sind: der jugendliche Held und auch sein Gegenspieler, der große Kapitalist. Nur das Töchterlein bleibt übrig und tritt in des Vaters Fußstapfen, will aber alles anders und natürlich viel besser machen - mit Herz!
"Im Kino wird beim Happyend / der Film gewöhnlich abgeblend'..." sagte Tucholsky. Und: "Die Ehe war zum größten Teile / verbrühte Milch und Langeweile." In PINKELSTADT - DAS MUSICAL wird eben nicht abgeblendet, der Erzähler serviert uns am Ende die verbrühte Milch: Gut und Böse existiert nicht, und die Zeiten werden auch nur vorübergehend besser. Die "guten" Rebellen sind zwar reinen Herzens, ansonsten aber ein bißchen dumm und naiv, und die "bösen" Kapitalisten sind zwar habgierig und hartherzig, aber auch vorausschauend (Werdmehr von Mehrwerth: "Ich sehe immer das Morgen!") und kümmern sich um die Instandsetzung und ums Grundwasser. Da man sie aber umgebracht hat und fröhlich vor sich hin lebt, ist bald wieder die ökologische Kastastrophe da! Ohne Knowhow und Kapital geht's eben nicht, Menschlichkeit allein reicht nicht aus, sagen uns die amerikanischen Autoren....
Ein quicklebendiges Ensemble aus 15 Schauspielern, Sängern und Tänzern mit vielfältigen Bühnenerfahrungen hält uns mit immensen künstlerischem Temperament in Atem, und Ilja Richter in der Rolle des "bösen" Werdmehr von Mehrwert läßt staunen: ist ja richtig was geworden aus dem kleinen Spaßmacher von dunnemals! In Steglitz verspricht sich also wieder ein lebendiges Theaterleben zu entfalten. Behalten wir es im Auge!

Nächste Premiere: Mit dem Musical "Eine Woche voller Samstage" zieht das als SAMS bekannte freche Wesen am 16. November in Steglitz ein. Der Vorverkauf hat begonnen. (Tickethotline 01805-44 44).

PINKELSTADT, Foto: Brinkhoff/Mögenburg (11590 Byte)
PINKELSTADT, Foto: Brinkhoff/Mögenburg  (6616 Byte)
Sigrid Wiegand

November 2004  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis