Wolfgang Ratzel - VHS-"Gesellschaftsarbeiter"
 
 
"Neue Armut" ist auch für einst besser verdienende, gut ausgebildete Schichten heute kein Fremdwort mehr. Wolfgang Ratzel, selber erwerbslos und seit einem Jahr VHS-Dozent, hat ein Kurskonzept entwickelt, das auf die Geschichte von Armut und Selbstorganisation verarmter Volksschichten blickt, die gegenwärtige politische Situation reflektiert, vor allem aber mit ganz praktischen Tipps die lokalen Kräfte zur Selbsthilfe stärken will.
Wolfgang Ratzel, in seiner Kindheit von der rheinischen Landschaft, dörflicher Gemeinschaft und kirchlichem Einfluss geprägt, studierte Theologie und geriet bald in die 68er-Bewegung. Mit deren "säkularisierter Befreiungsbotschaft" wollte er, wie viele Altersgenossen, in die Betriebe, zu den Menschen gehen. Er schmiss das Studium, wurde Hilfsarbeiter, bei Daimler zum Bandarbeiter "befördert" und nahm schließlich eine Lehre zum Versicherungskaufmann auf. Dabei machte er sich stets zum Sprecher von gesellschaftlichen Interessen, war Betriebsrat und aktiver Gewerkschaftler.

16 Jahre als Schadensachbearbeiter in Karlsruhe angestellt, danach vier Jahre in der Wahlheimat Berlin, fand er mitten im sich wandelnden Berufsleben die wirtschaftliche und dadurch ausgelöste gesellschaftliche Krise vor, der viele Menschen heute hilflos gegenüberstehen. Im Blick darauf wagte er, als die Kinder erwachsen waren, den Bruch mit seiner Erwerbsbiografie und kündigte den festen Job, um selbstbestimmt als "Gesellschaftsarbeiter" zu wirken. Parallel schloss er sein Studium an der Humboldt-Universität mit dem deutschlandweit ersten Magister in "Gender Studies" ab.

Wolfgang Ratzel will heute neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens organisieren für Menschen, die aus dem Berufsleben und damit nach ihrem Empfinden auch aus der Gesellschaft "ausgesondert" worden sind. Ehrenamtlich wurde Ratzel in der Erwerbslosenbewegung aktiv und organisierte autonome Seminare an der Humboldt-Uni zu diesem Thema. Sein Ansatz ist nicht erst in Zeiten der "Hartz"-Diskussion hoch aktuell:
Die in die Erwerbslosigkeit entlassenen Menschen, sagt Ratzel, gehen aus mehr heraus als aus ihrer Arbeit. Sie verlieren in einem ganz umfassenden Sinne ihre "Stelle" in der Gesellschaft. Deshalb können nur neue Formen des gesellschaftlichen Miteinander eine Lösung bieten. Die möchte er nun anstiften - in seinen Seminaren, den thematischen VHS-Kursen, aber auch den von ihm angeleiteten Selbsthilfe-Gruppen (z.B. im Halk Kösesi in der Crellestraße).

Wolfgang Ratzel gibt sich keinen Illusionen hin: Die Menschen müssten wohl oder übel lernen, wieder "armutsfähig" zu werden. Um provokante Thesen ist er dabei ebenso wenig verlegen wie um ganz pragmatische, auf die Überlebensfähigkeit der Menschen ausgerichtete Lösungsansätze.

September 2004  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis