Reihe Jugendkriminalität: "Erfurt ging mit Mobbing los"
Anti-Gewalt-Veranstaltung an der Schöneberger Robert-Blum-Oberschule


Es ist wohl nichts Ungewöhnliches dabei, wenn die Polizei vom Abschnitt 42 ausrückt, um der 11. Klasse einen Besuch abzustatten. Die Beamten wurden von der Schulleitung des Robert-Blum-Gymnasiums angefordert, aber nicht damit sie Taten und ihre Täter verfolgt, sondern im Gespräch mit Schülern die Gewalt bekämpft. Diese Art der vorbeugender Kriminalitätsbekämpfung praktizieren zwei routinierte Polizeibeamte einige Male im Jahr.

Forsch, aber gut gelaunt erscheinen sie in der Klasse, die sich auf Stühlen sitzend in einem Kreis platziert hat, und stellen sich samt ihren persönlichen Hobbys den Schülern vor. Zunächst soll über Erfahrungen mit Gewalt gesprochen werden - und weil die Beamten von Amts wegen verpflichtet sind, bei hinreichendem Verdacht einer Straftat einzuschreiten, wird den Schülern vorgeschlagen, ihre persönlichen Erlebnisse als Erlebnisse anderer oder als Fantasiegeschichten zu erzählen.
Schnell wird deutlich, dass die Schüler Erfahrungen mit Gewalt in ihrem Umfeld haben und für sie weniger der Täter als das Opfer im Vordergrund ihrer Anteilnah-me steht. Manchmal scheint es, als ob die Schüler auf eine derartige Veranstaltung gewartet haben; ihre anwesende Klassen-lehrerin muss sich hingegen auf das Zuhören beschränken.

"Lehrer haben Schiss", äußert ein Schüler, als es darum geht, wie Konflikte in der Schule gelöst werden können. Ein anderer erzählt von der erfolgreichen Durchführung einer klasseninternen Schlichtung, die von einem Lehrer geleitet wurde. Der ältere der Polizeibeamten sagt, dass es noch besser wäre, wenn die Schüler so etwas ohne Lehrer, also unter sich austragen würden: "Ihr seid erwachsen genug."

Wo beginnt Gewalt?

Die Polizeibeamten wirken unversehens unfreundlich und lassen eine gewisse Ignoranz gegenüber den Schülern erkennen. Im Befehlston wird ein Schüler aufgefordert, seine Tüte Schoko-Drops wegzulegen. Auf eine Wortmeldung eines Schülers reagiert der andere Polizeibeamte gelangweilt mit den Worten: "Was meldest Du Dich denn schon wieder?"
Gleich darauf löst sich wieder die Anspannung und die Beamten erklären den gewollten Stimmungswechsel mit der beabsichtigten Demonstration dessen, womit Gewalt beginnt: Mobbing.

Zwar ist dieser Begriff bis heute nicht allgemeingültig in einem Gesetzt definiert und taucht auch in keinem Strafgesetz auf. Trotzdem ist Mobbing häufig der Ausgangspunkt einer Gewaltspirale, auch an Schulen. "Erfurt ging mit Mobbing los", sagt ein Polizist und gibt den Schülern den Rat, das Gefühl einer Erniedrigung oder Schikanierung nicht in sich hinein zu fressen, sondern sich bereits in diesem Stadium zu wehren.
Eine Schülerin gibt auch zu, selbst gemobbt zu haben, später habe sie das Unrecht dann aber eingesehen und ihr Verhalten geändert. Nach diesem Wechsel ihrer inneren Einstellung wurden dann auch ihre Noten in der Schule besser - so hat nicht nur der Gemobbte etwas davon.

Im Verlauf der Veranstaltung äußern die Schüler öfter ihren Eindruck, dass die Bestrafung von Tätern zu spät erfolgt und meistens zu gering ausfällt. Dabei kommt es Ihnen vor allem auf eine Einsicht des Täters und seine Besserung an, damit er sein Verhalten für die Zukunft ändern kann. Daher zeigen sie Verständnis für den Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes und die Notwendigkeit, erzieherischer und weniger bestrafender Maßnahmen, als die Beamten ihnen den Unterschied zum Erwachsenen-Strafrecht erklären.
Um die Schüler gleichwohl von der Begehung von Straftaten abzuschrecken, machen sie auf erhebliche, gegen sie gerichtete zivilrechtliche Schadensersatzansprüche, etwa bei Graffiti, aufmerksam.

Rat und Tat

Angenommen, Sie möchten eine Kreuzung überqueren, in die gerade ein Lastkraftwagen einbiegt, der Sie jedoch nicht sieht. Gehen Sie weiter? Mit diesem Beispiel vergleicht ein Polizeibeamter die hypothetische Situation, in der Schüler einer aggressiv wirkenden Gruppe fremder Jugendlicher begegnen und Auseinandersetzungen drohen.
Gerade männliche Jugendliche legen Wert auf Imponiergehabe und möchten nicht so leicht nachgeben. "Wenn ich mit meiner Freundin unterwegs bin, weiche ich doch nicht aus. Was soll meine Freundin von mir denken?" Was soll die Freundin denken, wenn ihr Freund nur "eine halbe Kauleiste" hat und sich in ihrer Begleitung ständig auf Raufereien einlässt? Einem Schüler ist es seiner Erzählung nach schlecht bekommen, als er eine Gruppe Neonazis mit den Worten "kommt doch her" gereizt hat. "Sie sind dann auch hergekommen." Eine Stichwunde am Rücken war Zeugnis dieses Vorfalls.

Die Schüler sollen sich nach dem Rat der Polizeibeamten allgemein mehr auf ihre Intuition verlassen und von ihrem Bauchgefühl leiten lassen, um gar nicht erst Opfer zu werden. So könnten sie Gefahren früher erkennen und rechtzeitig Abstand halten. Es gibt eine Intimsphäre auch in der Öffentlichkeit, wird den Schülern erklärt, die etwa mit einer Armlänge Abstand - von jedermann - gehalten werden muss. "Der Täter will testen, ob die Angst beim Opfer ankommt"; ebenso, ob und wie weit sich sein Opfer wehren will.

Experimente

Die zwischen der Klassenlehrerin und den Polizeibeamten für die Veranstaltung vereinbarte Zeit von zweieinhalb Stunden ist abgelaufen. Fast pflichtbewusst unterrichten die Beamten mit Blick zur Klassenlehrerin die Schulklasse vom Ende der Veranstaltung, obwohl sie sich noch etwas vorgenommen hatten.
So wird nun doch auf ausdrücklichen Wunsch der Schüler überzogen und dafür der Mathematik-Unterricht verkürzt.
Die Schüler sollen sich jetzt vorstellen, dass sie mit der U-Bahn fahren. Ein Platz im Kreis wird frei gemacht. Der jüngere Polizeibeamte steht auf und ist im Begriff, sich auf den freien Platz zu setzen, während sein Kollege erläutert, dass die Schüler einen unangenehm riechenden, ansonsten aber nicht auffallenden Stadtstreicher vor sich hätten. Ohne eine negative Bemerkung oder Geste zu machen, verlassen die Sitzplatz-Nachbarn des Stadtstreichers ihre Stühle.

Später verkörpert der jüngere Polizist einen fein gekleideten, gut riechenden Bankangestellten, der sich in der U-Bahn neben zwei junge Frauen setzt. Anscheinend ungewollt berühren seine Knie die Beine einer Schülerin, die er plötzlich umarmt und fragt, ob sie heute Abend Zeit hätte. Die Schülerin lächelt peinlich berührt, bleibt aber sitzen. Sie hat sich nicht getraut, aufzustehen und laut zu rufen: "Lassen Sie mich los!"

"Allgemeines peinliches Berührtsein ist o.k.", sagt der Beamte, als sich die Veranstaltung ihrem Ende neigt. Die Schüler verstehen dabei aber auch, dass ein von Übergriffen betroffener Mitschüler mit seinen Gefühlen nicht allein gelassen werden darf.

Rechtsanwalt Wolfgang Kotsch

 

April 2005  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis                         

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