Friedenau vor 60 Jahren
Die Rheinstraße ist dunkel, der alte kleine Weihnachtsmarkt war nicht wieder aufgebaut
worden, ein paar Geschäfte versuchen weihnachtlich zu wirken mit selbst gesammelten
Tannenzweigen im Schaufenster und einigen Baumkugeln, anzubieten haben sie nicht viel. Die
Weihnachtswünsche sind bescheiden: Holz zum Heizen für den Ofen und zum Kochen für den
Herd und ein paar zusätzliche Lebensmittel, um wenigstens an den Feiertagen satt zu
werden.
Inge und Sonja ziehen mit Rucksäcken in den Wald und sammeln Äste, wenn nicht mehr genug
herumliegen, werden welche abgeschlagen. Was liegt näher, als auch nach einem kleinen
Weihnachtsbaum Ausschau zu halten? Im Düppeler Forst findet sich ein hübsches kleines
Bäumchen, das wird umgelegt. Auf dem Weg zum S-Bahnhof Wannsee machen sie in der
Königsstraße erschöpft Rast und werden von zwei Polizisten aufgegriffen: "Wenn ihr
euch ausgerechnet vor unserem Revier ausruht, können wir ja nicht anders..." Da
waren sie nun so vorsichtig gewesen, und jetzt das!
Den Baum sind sie los und beinahe auch noch die Axt, die sie von einer Nachbarin
ausgeliehen hatten. Die Polizisten lassen sich von ihren Tränen rühren, einen herrlichen
Teller Suppe aus der Gulaschkanone gibt es auch noch und ein paar Ermahnungen ("lasst
euch hier nicht mehr blicken!"), und so kommen sie ohne Weihnachtsbaum, aber
wenigstens mit der Axt wieder nach Hause. Da war inzwischen Inges Mutter von einer
Hamstertour aus Aschersleben zurückgekommen, wohin sich die Verwandten aus Königsberg
geflüchtet hatten, und hatte sogar etwas Fleisch mitgebracht - und eine kleine Kiefer! Es
gibt also einen Festbraten zum Weihnachtsessen, und die hübsch geschmückte Kiefer
verbreitet etwas Weihnachtsstimmung. Kerzen zog Inges Mutter aus Stearinplatten, die
flüssig gemacht und in Messingrohre aus alten Gardinenstangen gegossen wurden. Es war
sehr schwierig, sie dort nach dem Erkalten wieder herauszubekommen, und die Dochte saßen
auch nicht immer in der Mitte, aber sie halfen über stromlose Zeiten hinweg und
verbreiten Gemütlichkeit zum Weihnachtsfest. Sonjas Mutter hatte aus aufgeräufelten
alten Pullovern eine schicke Jacke für ihre Tochter gestrickt, und Inge bekommt von ihrer
Mutter ein selbstgenähtes Kostüm aus Uniformteilen. Die Freude ist groß: damit können
sie sich sehen lassen!
Zu diesem ersten Nachkriegsweihnachten finden sich überall die Familien zusammen, jeder
bringt mit, was er auftreiben konnte. Meist fehlen die Männer und Väter, sind vermisst,
gefallen oder in Gefangenschaft. Alle hoffen und träumen von einer besseren Zukunft.
Sigrid Wiegand
Dezember 2005 Stadtteilzeitung
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