Friedenau vor 60 Jahren: Was gibt's zu essen?

 

Inge war 9 Jahre alt, als sie ihre Mutter zum erstenmal weinen sah und sagen hörte: "Es gibt Krieg!" Das erste, was sie im Krieg vermisste, war Schlagsahne. Sahne war rar, und es war verboten, sie aufzuschlagen. Anfang der 40er Jahre wurden die Lebensmittel rationiert. Ihre Mutter begann, wie andere Hausfrauen auch, einzuwecken, hauptsächlich Obst und Gemüse. Das war etwas Neues: die großen Kessel, in denen die Einweckgläser gekocht wurden, bis sie steril verschlossen waren, wurden oft von Haushalt zu Haushalt weiterverliehen, überall brodelten Kessel auf dem Herd. Für viele, vor allem städtische Haushalte war diese Vorratswirtschaft eine Neuerung. So legten die Hausfrauen Vitamin- und Nahrungsmittelvorräte für die kommenden 'schlechten Zeiten' an. (Eine ausgebombte Tante klagte: "Und achtzig Gläser mit Kompott hin, alles im Eimer!")

Im Sommer 43 war Inge mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder zu Verwandten nach Masuren gefahren. Zu essen gab es dort genug, und wenn sie am Wochenende aus ihrer Schülerpension in Lyck, wo sie zur Schule ging, in das kleine Dorf fuhr, wo ihre Mutter und ihr Bruder bei einer Tante wohnten, konnte sie sich richtig sattessen. In Lyck machte die Pensionswirtin bereits etwas, das sich 'Streckbutter' nannte, d.h. sie 'verlängerte' die Butter, vermutlich mit Mehl und Milch. Die Bauerntöchter steckten ihr in der Schule Butter- und Käsebrote zu, die sie nicht wieder nach Hause bringen durften. Es kam also, wie immer in schlechten Zeiten, sehr auf die Umstände an, unter denen man lebte, und welche Beziehungen ("Vitamin B") man hatte!

Als sie im Sommer 44 nach Berlin zurückkamen, war die Versorgungslage dort inzwischen sehr schwierig geworden. Fett, Fleisch und Speck waren knapp und ohne Lebensmittelmarken schwer zu bekommen, auch die sog. Nährmittel gab es nicht mehr überall. Als 'eiserne Ration' hatte Inges Mutter einen Koffer voller Tüten mit Zucker, Mehl und Haferflocken. In den letzten Kriegstagen, als man bereits Geschützdonner hören konnte und die Rote Armee auf Berlin vorrückte, löste sich die Disziplin auf: Lebensmittelläden wurden geplündert, und auf dem S-Bahnhof Feuerbachstraße wurde aus einem Güterzug heraus Brot verteilt, eine von Tieffliegerangriffen begleitete Aktion, die alle unter die Züge scheuchte.

Kriegs- und Nachkriegszeit gingen ineinander über: in einigen Berliner Bezirken wurde noch gekämpft, in anderen verteilten russische Soldaten bereits Brot. Eine der ersten Taten der zuerst noch sowjetischen Stadtkommandantur war die Organisation der Ernährung der Bevölkerung, sprich: Lebensmittelkarten! Da waren sie also wieder bzw. immer noch, und für einige Zeit ging eine wirkliche Hungerei los. Viel Eigeninitiative war gefragt: Hamsterfahrten in die Berliner Umgebung, auf denen getauscht wurde, was man nur entbehren konnte (das Wort vom 'Perserteppich im Schweinestall' machte die Runde), Kaninchen und Hühner wurden auf Balkons gehalten, phantasievolle Brotaufstriche entwickelt (Marke 'Loreley': Ich weiß nicht, was soll es bedeuten...) - Ersatz allenthalben: Schlagcreme, Alkolat, Trockenkartoffeln. Aromastoffe hatten eine Blütezeit: Mehlsuppen mit Buttergeschmack! In der Schule gab es Schulspeisung, oft merkwürdige Zusammenstellungen wie Keks- oder Käsesuppe, sehr beliebt und sättigend, und jeden Tag eine Vitamintablette. Städtische Plätze wurden mit Kartoffeln und Gemüse bepflanzt, im Schulgarten zogen sie Mohrrüben und Tomaten, Zwiebeln und Kräuter. Der Schauspieler Gert Fröbe verkörperte als 'Otto Normalverbraucher' einen Menschen, der eben kein 'Vitamin B' hatte und von den Marken leben musste: ausgemergelt, immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Es war die große Zeit der Pickel und Eiterbeulen.

Die Menschen wollten aber nicht nur satt werden, sondern auch genießen: die Mütter von Inge und ihrer Freundin Sonja jammerten nach Bohnenkaffee, die Nicht-Raucher tauschten ihre Zigarettenkarten (ja, das gab es!) gegen Kaffee oder Zuckermarken ein, mit denen man auch Süßigkeiten kaufen konnte, und die Mädchen deckten ihren Bonbonbedarf in den Apotheken mit Hals- und Hustenpastillen. Ein regelrechter Jieper nach Süßem herrschte. Aus Milchpulver, Zucker und Wasser wurde eine Pampe angerührt, die sie 'Pitsche-Patsche' nannten und gegen alle Vernunft (das fraß Zuckermarken!) viel zu oft 'genossen'. Ein Steglitzer Bäcker machte gute Geschäfte mit einem selbst entwickelten 'Pudding', für den Brotmarken geopfert werden mussten. Gesund war das alles sicher nicht, deckte aber ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Genuss ab.

Alte, bunt bebilderte Koch- und Backbücher wurden zur beliebten Lektüre von Inge und Sonja. Sie malten sich aus, welche der leckeren Torten sie backen wollten, wenn es endlich wieder genug Lebensmittel geben würde - irgendwann einmal musste das doch kommen!

Sigrid Wiegand

Bild oben: Lebensmittelversorgung 1944, Fotos: Heimatverein Steglitz
Bild unten: Lebensmittelversorgung 1946, Fotos: Heimatverein Steglitz

 

Juli/August 2005  Stadtteilzeitung Inhaltsverzeichnis

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