Ungewöhnliche Mahnmale: Stolpersteine


  
Verständnis kommt durch Wissen

In unserer Juniausgabe wurden Termine für die Verlegung sogenannter Stolpersteine in Schöneberg angekündigt. Bei den Gedenkfeiern an sechs Orten Schönebergs fehlten leider noch die Steine - der Künstler konnte den Termin nicht halten. Das Einbringen der Steine ist nun für den 29./30. Juli 2005 geplant.

Diese Steine mit einer Oberseite aus Messing werden im Gehweg oder Bordstein eingefügt, beschriftet mit Namen, Geburtsjahr, Todestag und -ort. Es ist ein stilles Gedenken am letzten Wohnort von Menschen, die 1942/43 verschleppt wurden und im Ghetto Theresienstadt oder in Auschwitz umkamen.

Sechzehn Menschen wird so in Schöneberg gedacht. Es sind der 88jährige Julius Schulvater oder Bella, ein Jahr und 10 Monate alt, in einer Gaskammer erstickt mit ihrer Mutter Elsa und dem neunjährigen Bruder. Zehn Na-men auf den Gedenktafeln gehörten zu einer jüdischen deutschen Familie: Tawrigowski, genannt Friedländer - fünf Kinder, zwei Elternpaare, ein Großvater, ehemals zu Hause in der Barbarossastraße 8 und 53 sowie Nettelbeckstraße 10.

Die überlebende Cousine von Bella, Vera Friedländer, beschreibt in ihrem Buch "Man kann nicht eine halbe Jüdin sein" die Geschichte der großen Familie. Sie schildert rückblickend, wie sie als Kind und Jugendliche den wachsenden Antisemitismus nach 1933 erlebt, Diskussionen in der Familie, die ersten Emigrationen und verschiedensten Erfahrungen der Emigranten, Hoffen, Ängste und Schmerz der Bleibenden, Hilfe, gescheiterte Fluchtversuche, zunehmende Ausweglosigkeit, das spurlose Verschwinden von Angehörigen. "Der Abschied wurde zum bestimmenden Teil unseres Lebens." Heute kaum vorstellbares Geschehen wird an bekannten Orten lebendig.

Über ihre Hoffnungen als Überlebende schreibt Vera Friedländer u. a. "Wie oft habe ich mir das vorgestellt! Nicht als Geschichte, sondern als ein Wenn und Vielleicht. Ich habe mir in den langen Monaten, als ich noch hoffte, wenigstens eines der Kinder unserer großen Familie möge überlebt haben, ausgemalt, dass sich möglicherweise doch ... irgendwer unter irgendwelchen Umständen als Beschützer gefunden habe." Schutz für die Kinder Bella, Gerhard, Eveline, Heinz und Denny, um zu überleben. Selten gab es sie, die warmherzigen, couragierten, schützenden Menschen. Schwestern des St.-Katharinen-Stifts Greifswalder Straße 18 waren bereit, die kleine Bella mit neuem Namen in der Menge der 400 Kinder in Sicherheit bringen. Bellas Mutter Elsa fühlte sich außerstande, sich von ihrem Kind zu trennen. Groß war die Hoffnung auf eine geglückte Flucht und bessere Zukunft, zu groß die Angst, ihr Kind nie wieder zu finden. Keiner wusste von der gezielten Vernichtung in den Ghettos oder Todeslagern, nichts Derartiges stand in der zensierten Post. Als zunehmend überfallartig ganze jüdische Familien aus den Häusern geholt werden, um mit unbekanntem Ziel auf "Transport" zu gehen, fliehen Januar 1943 Herbert und Elsa Tawrigowski mit den Kindern Gerhard und Bella aus Schöneberg. Ein Schweizer Grenzort wird zur Falle für alle Flüchtlinge.

Immer noch gibt es viel Befangenheit, Unkenntnis oder Schweigen bei diesem Thema. Verständnis kommt durch Wissen und kennen lernen, meint

Annetta Mansfeld

Die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" mit Biografien von jüdischen Einwohnern aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg - mit Schwerpunkt Bayerisches Viertel - erhielt im Frühjahr im Schöneberger Rathaus überwältigende Resonanz. Durch einstimmigen Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung wurde gesichert, die Ausstellung in Intervallen von jeweils drei Monaten wieder zu zeigen. Geplante Wiedereröffnung Januar 2006.

Unterstützung des Projektes und Informationen über das Kunstamt, Tel.: 7560-4963 oder -6964, www.hausamkleistpark-berlin.de (in Arbeit).
Die Dokumentation "Orte des Erinnerns" ist erhältlich im Kunstamt Tempelhof-Schöneberg, Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6-7, 10823 Berlin, Mo.-Fr. 10 - 14 Uhr.

Jüdisch-Christlicher Begegnungsgottesdienst am ISRAEL-SONNTAG in der Philippuskirche am 31.7.05 um 10.30 Uhr, Stierstraße 17/19, Nähe Rathaus Friedenau. Mit Gedenken an die ermordeten Juden, die bis 1943 in der Stierstraße lebten.
Predigt: Rabbiner Dr. Andreas Nachama, Musikalische Mitwirkung: Kantor z. A. Alexander Nachama.

Foto: Familie Tawrigowski mit Sohn Gerhard, Mutter Elsa, Vater Herbert Tawrigowski, Großvater, Quelle: Familie Friedländer

 

 

Juli/August 2005  Stadtteilzeitung Inhaltsverzeichnis

für Besucher aus der Kiezbox: zurück zur Kiezbox