Serie: Friedenau vor 60 Jahren 
Foto: 1945 - "Die Ecke ist runter". Blick auf das Rheineck, den heutigen
Walther-Schreiber-Platz
Als die vierzehnjährige Inge im Sommer 44 mit ihrer Mutter
und ihrem kleinen Bruder aus Masuren nach Berlin zurückkam, hatte sich Friedenau
verändert. Ihre ausgebombte Tante Käthe, die jetzt bei ihnen in der Rheinstraße wohnte
und die Wohnung hütete, holte sie vom Bahnhof Friedrichstraße ab. "Heute Nacht hat
es einen Großangriff gegeben", sagte sie, "alle Fensterscheiben sind kaputt,
und die Wohnzimmerlampe liegt auf dem Tisch!"
So fing es also gleich an, man mußte sich wieder auf ein Leben mit Trümmern und
Bombenangriffen einstellen. Das Leben, das sich in den letzten anderthalb Jahren in der
Abgeschiedenheit eines Dorfes, wo sie noch mit Pferd und Wagen fuhren, und in der
Kleinstadt Lyck abgespielt hatte, war nun zu Ende - sie war wieder zu Hause, und sie
freute sich darüber, denn hier gehörte sie her, trotz allem; trotz der gestörten
Nächte durch die Fliegeralarme, trotz der Angst, die man hatte, wenn man die Flugzeuge
brummen und die Bomben rauschen hörte. "Wenn man die Bomben hört, treffen sie einen
nicht" wurde gesagt. Ob das stimmte?
Die Nachricht, daß "die Ecke runter ist", hatte sie schon in Masuren erreicht -
gemeint war damit das große Eckhaus Rheinstraße/Kaiser(Bundes-) allee, das vollkommen
zerstört war, so daß man jetzt vom Küchenfenster aus die Schloßstraße entlang sehen
konnte. Auch von der großen Häuserfront von der Bornstraße am Wochenmarkt an bis zur
Lefèvrestraße waren nur noch Ruinen übrig - ein erschütternder Anblick. Lediglich
einige Läden im Erdgeschoß und zum Glück, wie sie fand, das kleine Kino waren noch in
Betrieb. Das Haus an der Ecke Roennebergstraße hatte sie noch selbst brennen sehen, bevor
sie Berlin im Frühjahr 43 verlassen hatten, als sie nach einem nächtlichen Angriff
durch die Straßen gingen auf der Suche nach den begehrten Granatsplittern, die die
Flakgeschosse verstreut hatten und die beliebte Tauschobjekte in der Schule waren. Jeder
hatte so seinen Schuhkarton voll...
Herr Gottesmann, der im Flur des Nachbarhauses auf Holztischen Wäsche verkauft hatte, war
schon lange weg, nach Amerika, sagten einige. Aber es hieß auch, die Juden würden
abgeholt und in Lager gesperrt. Man sah nur noch wenige mit dem gelben Stern an der
Kleidung. Das war ein Thema, das Angst machte und an das sie nicht zu denken wagte. Ihre
Mutter wußte auch nichts Genaueres, und der geliebte kommunistische Onkel, mit dem sie
vielleicht darüber hätte reden können, war zum Strafbataillon 999 eingezogen worden und
sollte in Jugoslawien kämpfen. (Er kam nie wieder).
Es begann eine Zeit vieler Freiheiten. Morgens mußte Inge zum Appell in der
Königin-Luise-Schule antreten und traf dort neben anderen schon wieder Zurückgekommenen
auch ihre Freundin Sonja. Sie hatten sich fast zwei Jahre nicht mehr gesehen, da gab es
viel zu erzählen. Mit ihren beiden Hunden, dem Terrier Sherrie und dem Dackel Bazi, mit
denen sie in treuer Eintracht ihr Essen teilten, fuhren sie manchmal zum Baden an den
Schlachtensee, aber so mancher geplante Ausflug mußte wegen anfliegender feindlicher
Kampfverbände abgeblasen werden. Die Hitlerjugend kümmerte sich nicht mehr um sie, da
auch die meisten gleichfalls jugendlichen "Führerinnen" nicht in der Stadt
waren. So blieben sie "Jungmädchen", der mit 14 Jahren fällige Übergang in
den BDM fiel aus. Die Freundinnen waren nicht traurig darüber, nicht mehr andauernd zu
"Diensten" und Appellen beordert zu werden. Sie waren mit ihren Rädern
unterwegs und gingen viel ins Kino. "Kolberg" wurde gespielt mit viel Pathos und
der "Reichswasserleiche" Kristina Söderbaum, und im Titania-Palast wurde
"Die Frau meiner Träume" mit Marika Rökk uraufgeführt, ein Revuefilm, der
ihnen gefiel und dessen Schlager nachgesungen wurden: "In der Nacht ist der Mensch
nicht gern alleine", was ja ganz aktuell war, denn meistens verbrachte man die
Nächte zusammen mit der Hausgemeinschaft im Luftschutzkeller...
Sigrid Wiegand
Juni 2005 Stadtteilzeitung
< Inhaltsverzeichnis
Für Besucher aus der Kiezbox: ZURÜCK ZUR KIEZBOX |