Neue Serie: Friedenau vor 60 Jahren
Einsegnung 1945

Inge und Sonja, zwei Friedenauer Schulfreundinnen, waren beide im Sommer 1944 mit ihren Müttern nach Berlin zurückgekehrt, nachdem ihre Evakuierungsorte im Osten Deutschlands auch nicht mehr sicher waren. In Berlin waren die Schulen geschlossen, noch oder schon wieder in der Stadt befindliche Kinder und Jugendliche mußten sich täglich in ihren Schulen melden. Eine Waldorfschule in Kreuzberg erteilte unter dem Deckmantel dieses sog. Schulappells Unterricht (was eigentlich verboten war). Inge mußte allein jeden Tag zum Moritzplatz fahren, denn Sonjas Mutter erschien das Unternehmen zu gefährlich, sie wollte ihre Tochter nicht mitgehen lassen.

Tatsächlich kam es häufig vor, daß die Schülerinnen vorzeitig aus dem Unterricht entlassen und nach Hause geschickt wurden, weil im Radio "Voralarm" gegeben worden war: "Feindliche Kampfverbände im Anflug auf Berlin". Meist schafften sie es nicht mehr bis zu ihren Wohnungen und blieben unterwegs auf dem U-Bahnhof Nollendorfplatz oder dem Anhalter Bahnhof hängen - dort zum Glück nicht an dem Tag, an dem der Bahnhof, von Bomben getroffen, voll Wasser lief und hunderte von Menschen ertranken. (Noch jahrelang betrachtete Inge schaudernd die Markierungslinie hoch oben an den Kachelwänden, die das Wasser hinterlassen hatte).

Die Mädchen hatten sich entschieden, zum Konfirmationsunterricht in die Gossner'sche Mission in der Handjerystraße zu gehen, zur sog. bekennenden Kirche. Das war etwas Besonderes, man hob sich von den anderen ab. Sie wußten, daß die den Nazis kritisch gegenüberstanden, so konnte man also seinen Widerspruchsgeist ausleben. Nicht, daß die Freundinnen aus Widerstandsfamilien gestammt hätten; aber bei beiden herrschten Skepsis und ein kritischer Geist zu Hause. Sonjas Vater, der schon älter und deshalb nicht mehr eingezogen worden war, hatte lange im Ausland gelebt, sah die Dinge von etwas höherer Warte aus und hielt sich soweit als möglich aus allem heraus. Inge dagegen hatte einen Onkel, den sie sehr liebte und der Kommunist war. Sie verstand zwar nichts von den politischen Debatten zwischen ihm und ihrem Vater, wußte aber von früh an, daß man gegen Hitler und trotzdem ein "guter Mensch" sein konnte (was sie nicht daran hinderte, stolz darauf zu sein, daß sie "ein deutsches Mädchen" war...)

Auch 1945 liegt Ostern früh im Jahr, der Palmsonntag, der traditionelle Einsegnungstag, fällt auf den 25. März. Sonjas und Inges Müttern war es gelungen, Stoff aufzutreiben, aus dem sie ihren Töchtern Konfirmationskleider genäht hatten. Schwieriger war es schon, die Zutaten zum Festessen zusammen zu bekommen, die Gäste mußten dazu beitragen. So hatte jemand aus Inges Familie einen Kaninchenbraten gestiftet. Die Torten wurden aus Kartoffeln hergestellt, Weißbrote wurden mit Puddingmasse gefüllt und mit eingemachtem Obst garniert. Auf Bohnenkaffee mußten die Erwachsenen verzichten - den Mädchen war's egal.

Ganz zeitgemäß muß der Vormittagstermin für die Einsegnung auf den Nachmittag verschoben werden - es hat wieder einmal "Voralarm" gegeben. Die Mädchen laufen mit wehenden Röcken, Blumensträuße in der Hand, samt ihren Gästen erst einmal wieder nach Hause in ihre Luftschutzkeller, Sonja in die Niedstraße, Inge in die Rheinstraße. Am Nachmittag dann endlich der große Moment, die Aufnahme in die Gemeinde, oder eher: in die Gesellschaft der Erwachsenen. Pfarrer Jannasch verkündet die Konfirmationssprüche, verwundert hört Inge "Selig sind die Friedfertigen...", Inges Mutter kichert.

Und dann sind die beiden bald Fünfzehnjährigen der Mittelpunkt in ihren Familien. Es gibt Geschenke: Geld, viel Geld, mit dem man im März 45 nicht viel anfangen kann (und das dann später auf dem Schwarzmarkt landet: ein Brot für 90.- Mark) - Bücher für die nun "Erwachsenen", die auch noch nicht so ganz das Richtige sind, gestickte Taschentücher. Die jahrelang angekündigte goldene Armbanduhr von Inges Patentante allerdings war den Umständen zum Opfer gefallen - und kam auch später nie...

In Sonjas Familie wurde nicht gefeiert. Ihr Vater hatte sich zu einer Operation in eine Klinik begeben, um der Einberufung zum "Volkssturm" zu entgehen und war durch eine Bombe getötet worden, die die Klinik wenige Tage zuvor getroffen hatte.

© Sigrid Wiegand

 

Mai 2005  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis                         

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