Das Schöneberger Familienunternehmen
verläßt den Bezirk
Das Druckhaus und die Schöneberger Buchbinderei des
Langenscheidt Verlages werden geschlossen. Zum Jahresende 2005 sieht sich die
Langenscheidt-Gruppe gezwungen, ihre technischen Betriebe Berlin in der Crellestrasse zu
schließen.
Der anhaltende Verfall der Marktpreise im Druck- und Buchbindebereich und anstehende
Investitionen in Millionenhöhe, die zwangsläufig auch in den eigenen Betrieben zu
Überkapazitäten führen würden, machen diesen Schritt unumgänglich. Von der
Schließung sind 51 Mitarbeiter betroffen, teilte am 27.04.2005 die
Unternehmens-Hauptzentrale in München mit.
Vor fast 150 Jahren hatte alles in Berlin begonnen:
Anno 1850 reist der achtzehnjährige Gustav Langenscheidt (1832 - 1895) durch Europa.
Schier unüberwindbar erschienen ihm die vorhandenen Sprachbarrieren. Bei Charles
Toussaint lernt er Französisch und malt die Aussprache der Wörter auf. Somit erfindet er
die erste praktikable Lautschrift in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Da kein Verlag bereit
ist, seine Selbstunterrichtsbriefe zu veröffentlichen, gründet er im Jahr 1856 die
"Langenscheidt Verlagsbuchhandlung Berlin". Gustav Langenscheidt publiziert die
"Sprachlehrbriefe Französisch" und 1880 erscheint das Enzyklopädische
Großwörterbuch "Sachs-Villatte" in gleicher Fremdsprache - gefolgt 1901 von
"Muret-Sanders" in Englisch.
Der erste Geschäftssitz ist eine bescheidene Wohnung in der Schönhauser Allee 177a. In
Folge von Platzmangel mietet er in den darauffolgenden Jahren größere Wohnungen in der
Kronenstrasse 11 und in der Hirschelstrasse 32 und 43 (der heutigen Stresemannstrasse) an.
1864 entsteht für rund 50 000 Taler ein Haus in der Halleschen Straße 17, in der Nähe
des Anhalter Bahnhofs. Auch dieses Domizil wird über die Jahre hinweg zu klein und im
Jahr 1905 wird der damalige Neubau in der Bahnstrasse 29/30 (der heutigen Crellestrasse)
in Schöneberg bezogen.
In der zweiten Verlegergeneration übernimmt sein Sohn, Carl Langenscheidt (1870 - 1952),
das Unternehmen. Ein Avantgardist - der erste gewiefte Marketingstratege Deutschlands - er
kreiert das große blaue "L", den Anfangsbuchstaben des Familiennamens als
unverwechselbare Qualitätsmarke.
Den Verlag manövriert er durch die Weltkriege und Wirtschaftskrisen. Wie in vielen andere
Firmen, litt auch die Verlags-Produktion unter den Kriegsverhältnissen: Personal wird
einberufen, Papier, Letternmaterial und Druckfarben sind knapp.
Am 30. Januar 1944 wird das ehemalige Stammhaus von Phosphor- und anderen Brandbomben
getroffen und zerstört. Das Vorderhaus, in welchem die Verlagsräume sind, brennt bis zum
Keller aus. Die Arbeit des Verlags geht weiter. Als Notunterkunft dient ein Büroraum am
Willmanndamm. Die Expedition wird nach Potsdam verlagert und teilweise in einer Druckerei
in Neuruppin die Produktion aufgenommen. Drei Setzer vom Verlag reisen mit den fertigen
Druckplatten und unbezahlbar gewordenem Blei zum Ausgießen der Matrizen dorthin.
Ende April 1945 wird die gesamte Verlagsarbeit eingestellt. Berlin ist Kampfgebiet. Erst
am 1. April 1947 erteilt die amerikanische Besatzungsmacht die benötigte Lizenz, um einen
Verlag betreiben zu können.
Geld fehlt, da alle Konten durch die Kapitulation beschlagnahmt sind. Eine Druckmaschine,
die vor den sowjetischen Truppen bei ihrem Einzug 1945 gerettet wurde (vor der
Sektorenteilung), ist noch vorhanden, aber Letternmaterial der Setzerei, Schriftvorräte,
Papierstapel und große Vorräte an fertigen Bänden sind vernichtet. Der Wiederaufbau aus
dem Nichts beginnt. In den 50er Jahren entsteht der schlichte Nachkriegsbau, welcher von
der Verlagsgruppe bis zum Jahresende noch als Druckhaus Langenscheidt und Schöneberger
Buchbinderei genutzt wird.
Der Urenkel des Verlagsgründers, Karl Ernst Tielebier-Langenscheidt (geb. 1921), führt
die Familien-Verlegertradition fort. Neben dem Sprachen-Programm erweitert er das
Verlagsangebot um die Sparte Reise/Kartografie und reagiert auf den einsetzenden deutschen
und internationalen Tourismusboom.
Anlässlich des 100jährigen Verlagsjubiläums im Jahr 1956 ändert sich die optische
Gestaltung der Bucheinbände. Die einst unauffälligen dunkelblauen Einbände der
Wörterbücher, die teilweise schon mit gelber Bauchbinde in den Buchhandlungen zu finden
waren, werden von diesem Zeitpunkt an bis zum heutigen Tag in dem auffällig leuchtenden
Gelbton verlegt. Im Jahr 1961 erfolgt die Gründung des zweiten Verlagssitzes in München.
Seit zwei Jahrzehnten führt Andreas Langenscheidt (geb. 1952) in der vierten Generation
die Verlagsgruppe an. Zusätzlich zu den bestehenden zwei Säulen (Sprache,
Reise/Kartografie) erweitert er das Unternehmen mit der Beteiligung am Verlag
Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus und schafft die dritte tragende Säule:
Wissen und Deutsche Sprache.
In den 80er Jahren setzte Andreas Langenscheidt entscheidende Akzente durch die weitere
erfolgreiche Internationalisierung des Familienunternehmens. Somit vereint heute das
"Gelbe Dach" nationale und weltbekannte Markennamen u.a. wie: Duden, Meyers,
Hardenberg, Polyglott, Insight Guides, Blay Foldex und American Map.
"Wir haben alles versucht, um die Schließung zu verhindern", so Langenscheidt
Verlagsleiter Rolf Müller, "aber die enormen Investitionen in Umzug und Maschinen
kämen denen einer Neugründung gleich, und das ist angesichts der Marktlage leider nicht
zu rechtfertigen. Wir wollen stattdessen künftige Aufträge bevorzugt an Berliner
Betriebe geben und sind sicher, dass dadurch neue Arbeitsplätze geschaffen werden."
Susanne Döhler
Mai 2005 Stadtteilzeitung
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