Bürgerentscheide - Basisdemokratie
oder Feigenblatt? Berlin hat einen
gewaltigen Schritt getan: wo viele andere europäische Länder wie etwa Österreich und
Dänemark und vor allem die Schweiz längst das Volksbegehren eingeführt haben, das den
Bürgern direkten Einfluß auf die Politik ihrer Länder einräumt, ist hier bei uns das
sog. Bürgerbegehren initiiert worden - auf Bezirksebene! Als letztes Bundesland hat
Berlin sich durchgerungen, seinen Bürgern und Bürgerinnen mehr Mitbestimmung
zuzugestehen. Nicht etwa, daß wir jetzt über Berliner Probleme mitentscheiden können,
sondern wir dürfen uns an den paar Kompetenzen beteiligen, die die Bezirke gegenüber dem
Senat, also der Landesebene, haben.
Im Vorfeld hat es eine jahrelange Debatte zwischen SPD und PDS mit den Grünen und der FDP
gegeben, bis sie sich schließlich einigten, die Landesverfassung dahingehend zu ändern,
daß wenigstens das bezirkliche Bürgerbegehren realisiert werden konnte. Trotzdem sind
nicht alle Bezirkspolitiker begeistert. Das Gesetz würde es relativ kleinen Gruppen
ermöglichen, wichtige Bauvorhaben (!) oder Investitionen monatelang zu blockieren (daß
sie sie zu Fall bringen könnten, wird schon gar nicht in Erwägung gezogen), fürchtete
z.B. die Reinickendorfer Bürgermeisterin (Marlies Wanjura, CDU) und teilt diese Bedenken
mit ihrer Partei auf Landesebene. Schon die Wortwahl zeigt, dass es manchen
Bezirkspolitikern gar nicht auf bürgerschaftliche Mitbestimmung anzukommen scheint,
sondern eher auf ein gewisses Mitspracherecht, das eben für eine Weile blockieren
könnte, ehe die Beschlüsse der Bezirkspolitiker dann endlich doch umgesetzt werden.
Nun ist es sicher ein Irrtum, zu unterstellen, dass alle Beschlüsse der
Bezirksverordnetenversammlung immer der Weisheit letzter Schluß wären. Auch sie
vertreten Lobbyinteressen, die nicht immer die Interessen der Bürger sind. Und genau hier
liegen die Chancen, die Bürgerentscheide für den Bürger bringen. In der Demokratie
regieren Mehrheiten, das ist der Kompromiß, den wir eingehen müssen, und oft genug
fallen wir mit unseren Wünschen und Vorstellungen hinten runter, weil wir überstimmt
werden. Der Bürgerentscheid versetzt den Einzelnen in die Lage, seinerseits Mehrheiten zu
sammeln, um sich eine verbindliche Mitbestimmung in seinem Bezirk zu verschaffen. Das
heißt allerdings auch, dass z.B. Menschen mit den gleichen Problemen in Schöneberg nicht
ihre Leidensgenossen etwa in Steglitz unterstützen können; jedes Thema muß erneut in
jedem Bezirk durchgefochten werden. Kleinstaaterei in der Hauptstadt! Drei Prozent der
Stimmen der Wahlberechtigten eines Bezirkes (Deutsche i.S. des Grundgesetzes sowie im
Bezirk ansässige EU-Bürger und -bürgerinnen) müssen zusammengebracht werden, um zu
einem Bürgerentscheid über ein bestimmtes bezirkliches Thema zugelassen zu werden (das
sog. Bürgerbegehren); fünfzehn Prozent der Wähler eines Bezirkes müssen sich dann an
der Abstimmung über dieses Thema beteiligen (Bürgerentscheid). Nach Abgabe der Hälfte
der geforderten Stimmen darf für drei Monate eine dem Bürgerbegehren entgegenstehende
Entscheidung durch die Organe des Bezirks nicht mehr getroffen und mit dem Vollzug einer
solchen Entscheidung nicht begonnen werden.
Das setzt großen persönlichen Einsatz voraus, aber ist es nicht auch ein lohnendes Ziel,
die gesetzgebende Gewalt jetzt auch auf dem Wege von Bürgerentscheiden auszuüben?
Mitbestimmung bedeutet auch immer, Verantwortung zu übernehmen für das, was man
bestimmen will; einfacher ist es, die Politiker machen zu lassen und sich hinterher zu
beschweren, daß man wieder nicht gefragt wurde. Jetzt müssen wir gefragt werden, und
wenn wir zu ernsthaften Antworten bereit sind, müssen wir uns die Mühe machen, genügend
Gleichgesinnte zusammen zu bekommen, um mit ihnen für unsere Interessen zu streiten! Am
erfolgversprechendsten wird es sein, Bürgerinitiativen zu gründen oder sich bereits
bestehenden Initiativen anzuschließen. So könnte das Bürgerbegehren evtl. ein
geeignetes Mittel sein, die hanebüchene Bauplanung am Walther-Schreiber-Platz positiv im
Sinne der Friedenauer/Schöneberger Bürger zu beeinflussen. Wichtig ist für uns Bürger
vor allem die umfassende Informierung über das, was möglich ist und was nicht - und
warum nicht. Der Verein "Mehr Demokratie" fordert Beratungsstellen für
Bürgerinitiativen, weil vieles eben nicht machbar sei.
Folgerichtig setzt sich der Verein daher für das Volksbegehren ein, denn auf Bezirksebene
gehe es nicht um erfolgreiche Bürgerentscheide, sondern um bessere Kommunikation zwischen
Bürgern und Politik. Wie sagte die Lichtenberger Bürgermeisterin (Christina Emmrich,
PDS): "Wenn wir den Nerv der Bürger nicht treffen, müssen sie die Möglichkeit
haben, uns zu korrigieren." Dem kann nur zugestimmt werden!
Sigrid Wiegand
Informationsverabstaltung
Am 7. September. 2005 findet um 18 Uhr zum Thema "Bürger und Bürgerinnen
entscheiden selbst" eine gemeinsame Veranstaltung des "kommunalpolitischen
forums (berlin) e.V." mit "Mehr Demokratie" (Landesverband
Berlin-Brandenburg) im Haus der Demokratie und Menschenrechte (Großer Saal) in der
Greifswalder Str. 4 in Prenzlauer Berg statt. (Teilnahmegebühr 5,- Euro). Anmeldung bis
zum 5.9.
Informationen zur Veranstaltung gibt es unter Tel. 263 052 60 oder 0177-811 19 62.
(Wir werden berichten)
September 2005 Stadtteilzeitung
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