DIE RUSSEN KOMMEN!
Friedenau vor 60 Jahren

Wie war das, als die Russen im April 45 nach Friedenau kamen? Zuerst tage- und nächtelang ferner Geschützdonner, der langsam näher kommt. Dann Gerüchte: in Wannsee sollen sie schon sein, rücken vor auf die Innenstadt - also mal wieder bei uns durch... Dann: am Rathaus Steglitz wird gekämpft, in der Schloßstrasse sollen sie schon gesehen worden sein. Vereinzelte deutsche Soldaten rennen durch die Rheinstraße, manche ziehen die Uniform aus und wollen in die Keller. Plötzlich Ruhe: was ist los? Eben hatte es noch einige Gewehrsalven gegeben, die gläserne Bierreklame an der Kneipe gegenüber ging zu Bruch, aber niemand folgte. Sie tauchten an der Kaisereiche wieder auf, waren wohl hintenrum durch die Nebenstraßen gezogen, weil sie in der breiten Rheinstraße ein zu gutes Ziel abgaben, hieß es. Zwischen dem Rheineck und der Kaisereiche jedenfalls fanden keine Kämpfe statt. Nachts ziehen marschierende Kolonnen durch, Inge, die neugierig vor der Haustür steht, wird von ihrer besorgten Mutter unsanft in den Luftschutzkeller gescheucht. Alle Frauen verstecken sich erst in den Kellern, dann, als es hieß, da kommen sie zuerst rein, nach oben gehen sie nicht, in ihren Wohnungen unter den Betten und hinter den Schränken. Vielen half auch das nicht... Das Haus, in dem Inge wohnt, hat eine etwas versteckte Tür, die man nicht gleich als Hauseingang erkannte, was sie vor ständigen Durchsuchungen bewahrt. Früher hatte sie sich oft geärgert, wenn neue Freundinnen, die sie besuchen wollten, das Haus nicht fanden; jetzt ist sie froh. Jeder bleibt zu Hause und weiß nicht, was drei Straßen weiter passiert.

Bei Sonja in der Niedstraße hatte es Vergewaltigungen gegeben. Die Mädchen verkleiden sich als Jungen, ziehen ihre Skihosen an, weite Anoraks darüber, die früher Windjacken hießen, die langen Haare werden unter Schirmmützen gestopft. So stiefeln sie unbehelligt durch Friedenau. Am Rheineck wird eine Stalinorgel postiert, auf die Innenstadt gerichtet, wo immer noch gekämpft wird, sie kommt zum Glück nicht mehr zum Einsatz.

Bald ändert sich das Bild: in der Rheinstraße taucht eine Gulaschkanone auf, russische Soldaten verteilen Suppe und Brot an die Kinder. Einer läßt den kleinen Dieter von nebenan auf einem breiten Russenpferd reiten. Der Krieg ist wohl zu Ende, so genau weiß man das nicht. Langsam beruhigt sich die Lage.

Viele russische Militärfahrzeuge fahren durch die Rheinstraße, am Rheineck steht eine dralle russische Soldatin auf einem Podest und regelt zackig den Verkehr. Leider kann auch sie nicht verhindern, daß Inges kleiner Dackel überfahren wird, als er durch die zufällig offen stehende Haustür entwischt und auf den Fahrdamm rennt. Traurig begraben ihn die Freundinnen auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz. Überall Verkehrsschilder in kyrillischer Schrift, die die Mädchen bald lesen können. Anschläge mit den vom sowjetischen Stadtkommandanten erlassenen Befehlen und Anordnungen werden ausgehängt: abendliche Ausgangssperre, Ruhe und Ordnung bewahren, Lebensmittelkarten abholen, die Schule soll bald wieder beginnen. Das Leben läuft wieder an.

Zwei Monate später sollen sie in der tatsächlich wieder eröffneten, halb zerstörten Königin-Luise-Schule (das schöne Glasdach der Aula ist zerborsten, die Majolikaverzierungen abgeschlagen) Russisch lernen, was ziemlich schwierig ist und patriotisch abgelehnt wird... Von Flugblättern weiß man schon lange, daß Friedenau zum amerikanischen Sektor gehören wird und die russische Sprache wohl nur ein Interregnum ist. Der alte Direktor hatte verfolgten Juden geholfen und darf im Amt bleiben. Er macht die ersten Versuche, den Schülerinnen das Unrecht der Nazizeit nahe zu bringen.

Bald werden die Amerikaner da sein, und manches wird sich wieder ändern.
Sigrid Wiegand

Fortsetzung folgt...

September 2005  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis

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