"Ich lasse die Geschichte in mir wachsen"
Interview mit Edgar Hilsenrath am 18.01.2006


Foto: Jürgen Bauer
Edgar Hilsenrath in seiner Friedenauer Wohnung, Foto: Jürgen Bauer

Am 2. April diesen Jahres wird der Schriftsteller Edgar Hilsenrath 80 Jahre alt. Anlass und Ehre genug für unsere Zeitung, diesen bedeutenden und mit Literaturpreisen überhäuften Autoren zu interviewen, der seit fast 30 Jahren in Friedenau wohnt. Die meistgestellte Frage sei, warum er überhaupt nach Deutschland zurückgekehrt sei, aber eigentlich würden sowieso nie die richtigen Fragen gestellt. Welche das sein könnten, verriet er aber nicht.

Ich treffe Herrn Hilsenrath im Hotel Friedenau bei seiner Schriftstellerkollegin Christa Moog.

Ich habe das SPIEGEL-Interview mit Ihnen gelesen, das im letzten Jahr im April erschien. Darin haben Sie erwähnt, dass Sie schon mit 14 Jahren begonnen haben zu schreiben.

So ist es. Das war 1940 in Rumänien, in der Bukowina, in einem kleinen jüdischen Städtchen namens Seghet. Meine Großeltern lebten dort. Ich hatte mein eigenes Zimmer – es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Die Bukowina hatte vor dem 1. Weltkrieg zu Österreich gehört und wurde von Rumänien annektiert; dort wurde vorrangig deutsch gesprochen.

Aber ursprünglich kamen Sie aus Halle? Wieso gingen Sie nach Rumänien?

Wegen der Judenverfolgung in Deutschland. Rumänien war damals noch neutral. Später wurde Rumänien faschistisch und schloss sich Hitler an und marschierte mit Deutschland in Russland ein. Da wurden alle Juden deportiert, und ich auch.

In die Ukraine, 1941.

Ja. Dort war es furchtbar. Wir waren in einem Ghetto eingesperrt, der Ort war eine Ruinenstadt, vom Krieg zerbombt und zerschossen. Die Häuser waren kaputt, die meisten Leute lebten auf der Straße und erfroren im Winter. Es war immer Hungersnot, man ließ kein Essen hinein, und viele sind krepiert.

Und wie konnte man das überleben?

Man durfte ja nichts mit hineinnehmen bei der Deportation, das war bei Todesstrafe verboten. Weder Geld noch Schmuck noch sonst was. Wir hatten alles mitgenommen, Geld und Schmuck und Pelzmäntel... Das haben wir dann in den umliegenden Dörfern getauscht, gegen Lebensmittel und Brennstoff.

Aber wie kamen Sie denn raus aus dem Ghetto?

Schwarz. Illegal.

Dort haben Sie weitergeschrieben?

Den angefangenen Roman habe ich nur halb geschrieben, dann habe ich ihn meiner Mutter gegeben. Sie hat ihn aufbewahrt und hat ihn mit auf die Flucht vor den Russen genommen, die 1944 gekommen sind. Die Russen sind im Ghetto einmarschiert und haben es befreit, aber dann entpuppten sich die Befreier als Verfolger, denn dann wurden Tausende von Menschen nach Sibirien geschickt, zur Zwangsarbeit.
Ich bin zu Fuß nach Czernowitz gegangen, durch Bessarabien. Dabei wurde ich gefangengenommen und sollte ebenfalls als Arbeiter nach Sibirien ins Donezbecken gebracht werden. Mir ist die Flucht gelungen, ich bin über die Grenze ins freie Rumänien gegangen, das war nicht weit, etwa 40 km. Dort habe ich von 1944 bis September 1945 gelebt. Dann bin ich mit einigen Freunden nach Bukarest gegangen, weiterhin zu Fuß und auf Pferdekarren, und in Bukarest habe ich mich mit den Zionisten in Verbindung gesetzt. Die waren gut organisiert und haben Transporte nach Palästina arrangiert, meist mit Schiffen, aber wir sind mit der Eisenbahn gefahren, über Bulgarien, Türkei, Syrien, Libanon, bis Palästina. In Bulgarien waren inzwischen die Russen einmarschiert und haben uns wieder verhaftet, weil wir keine Papiere hatten. Wir wurden zwei Monate interniert, in einer Stadt namens Staraja Zagora. Dort ist aber nichts weiter passiert, wir bekamen zu essen und uns ging es gar nicht mal schlecht. Schließlich kam aber Ben Gurion nach Sofia und hat uns rausgeboxt. Die Russen ließen uns also nach Istanbul weiterfahren und dann nach Palästina; die Reise hat über zwei Monate gedauert.

Dort sind Sie aber nicht geblieben.

In Palästina nicht, nein. Ich war 18 Jahre alt, ohne Eltern, ohne Freunde, ich sprach die Sprache nicht; ich habe mich mit meinem Vater in Verbindung gesetzt, der 1939 nach Paris geflüchtet und unter falschem Namen untergetaucht war, um nicht von den Deutschen deportiert zu werden. Er hat den Krieg in Lyon überlebt. Ich bin 1947 von Palästina aus nach Lyon gefahren. Meine Mutter und mein Bruder kamen aus dem Ghetto zunächst in unsere kleine Stadt Sereth und sind von dort illegal und meist zu Fuß nach Paris gegangen.

Danach kamen Sie in die USA.

1951 bin ich in die USA ausgewandert.

Aber dort hat es Ihnen auf Dauer auch nicht gefallen.

Mir nicht, nein. Amerika ist nichts für Leute, die kein Geld und keinen Posten haben. Ich war ja ein armer Schriftsteller und lebte am Rande der Gesellschaft.

Hatten Sie da schon Ihren ersten Roman wieder aufgenommen, den Ihre Mutter rausgeschmuggelt hatte?

Den habe ich nie weitergeschrieben. Meine Mutter wurde auf der Flucht im Wald überfallen, und sie haben all ihre Koffer gestohlen, inklusive meinem Manuskript. Das habe ich nie wiedergesehen. Nein, ich habe dann 1950 in Frankreich einen neuen Roman angefangen und in Amerika fertiggeschrieben: "Die Nacht".

Darin stellen Sie unsentimental und realistisch die Geschehnisse im Ghetto dar. Wurde darauf reagiert?

Ja, das war eine Katastrophe. Der Verleger mochte das Buch, aber die Frau vom Verleger war dagegen. So hässliche Juden durfte man nicht darstellen, das gehört sich nicht. Es herrschte eine philosemitische Stimmung in Deutschland, und Juden mussten als Edelmenschen gezeigt werden. Die haben das Buch kaputtgemacht. Es wurden 700 Stück verkauft, und der Rest ist verschwunden.

Wurde es später wieder aufgelegt oder erst jetzt wieder?

Es kam dann in Amerika heraus, durch einen Agenten, einen gewissen Max Becker, und der hat es beim größten amerikanischen Verlag herausgebracht, und zwar bei Doubleday. Das Buch hatte sehr gute Kritiken. Später kam es als Taschenbuch in einer Auflage von 175.000 heraus. Es wurde ein Taschenbucherfolg.

Der Durchbruch kam dann später mit "Der Nazi und der Friseur", in den Siebziger Jahren.

Ja. Der Braun-Verlag war das, den Verleger lernte ich hier in Berlin im Buchhändlerkeller kennen. Er ließ sich das Manuskript schicken und war so begeistert von dem Buch, dass er mir sofort einen Vertrag für mehrere Bücher geschickt hat, darunter auch "Die Nacht".

Als der Nazi und der Friseur erschien, waren Sie also schon wieder in Deutschland.

Ich bin wegen der Sprache wieder nach Deutschland gekommen. Ich schrieb nur deutsch, auch in der Bukowina hatte man nur deutsch gesprochen. Damals habe ich eine Art Liebesbeziehung zur deutschen Sprache geknüpft, denn in der Bukowina war Deutsch eine heilige Sprache, weil man zwar außerhalb Deutschlands lebte, aber doch deutsch sprach. Wir liebten die deutsche Sprache alle, auch die Juden.

"Verliebt in die deutsche Sprache" war der Titel einer Ausstellung über Ihr Leben und Werk in der Akademie der Künste, die gerade zu Ende gegangen ist.

Ja, eine wunderschöne Ausstellung. Es gibt einen Ausstellungskatalog dazu.

Ist das Leben in der Bukowina so idyllisch gewesen wie die Schilderungen in "Jossel Wassermanns Heimkehr"?

Ja, so ungefähr. Ich habe auch ein Kinderhörspiel mit Geschichten aus jener Zeit geschrieben. Übrigens kommt in diesem Jahr eine Biographie über mich heraus.

Haben Sie literarische Vorbilder, etwa in Bezug auf Ihre ungewöhnliche Dialogform?

Erich Maria Remarque: Er schrieb wunderbare Dialoge, von ihm habe ich das gelernt, und auch von Hemingway. Das waren meine Vorbilder.

Welches Ihrer Bücher schätzen Sie bis heute am meisten?

Ich glaube, das anspruchsvollste Buch ist der armenische Roman, "Das Märchen vom letzten Gedanken", über den Völkermord an den Armeniern; mein Lieblingsbuch ist "Die Nacht".

Denken Sie, Sie können mit Ihrer Literatur etwas bewirken?

Man kann die Welt nicht verändern mit Literatur, sondern man schreibt und hofft, dass viele Leute es lesen; mehr kann ich nicht machen. Ich glaube nicht, dass ich die Welt verändere. Die Leute bekommen vielleicht Denkanstöße durch meine Bücher und werden ein wenig beeinflusst, aber wie gesagt: Die Welt kann man nicht verändern durch Literatur.

Gibt es denn ein Buch, das Sie noch schreiben möchten?

Ja, ich denke jetzt daran, einen neuen Satireroman zu schreiben, so ähnlich wie meinen "Zibulsky".

Aus heutiger Sicht geschrieben?

Nein, der wird auch in Rumänien spielen, in der Bukowina.

Wie arbeiten Sie?

Ich lasse die Geschichte in mir wachsen, dann setze ich mich hin und schreibe sie in einem Rutsch auf.

Viel Erfolg dabei. Herr Hilsenrath, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Sanna v. Zedlitz

Edgar Hilsenrath bei www.buch24.de

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