Der Teltowkanal ganz anders
Westberliner Refugien


Das alte Westberlin bot seinen Bewohnern viele Ausflugsziele, und alle waren, den Umständen geschuldet, überfüllt: der Wannsee, die Havelufer, der Teufelsberg, der Grunewald, der Tegeler Forst und das Tegeler Fließ, der Botanische Garten, der Zoo, die Parks, die Seen, die Schwimmbäder – man konnte die Stadt ja nicht so ohne weiteres verlassen. Aber es gab einige "geheime", meist etwas bizarre Ecken, in die man sich, wusste man von ihnen und war abenteuerlustig genug, müßig zurückziehen konnte. Von einer, dem Gelände der stillgelegten S-Bahn zwischen Priesterweg und Anhalter Bahnhof, hatte ich an anderer Stelle schon erzählt (Nr. 11, Mai 2004).

Ein anderes derartiges Refugium gab es am Teltowkanal, am südöstlichen Ende Westberlins. Die bekannten Spazierwege am Steglitzer und Lankwitzer Kanalstück, die Promenier- und Treidelwege, werden durch die Industriegebiete Tempelhofs unterbrochen; erst in Britz führen wieder Wege dicht an den Teltowkanal heran. Am Hafen Britz-Ost gabelt er sich, ein Arm fließt in nordöstlicher Richtung und nennt sich Britzer Zweigkanal, der in Baumschulenweg auf die Spree trifft, in Mauerzeiten also in Ostberlin lag; der andere Arm in südöstlicher Richtung behält seinen Namen und landet in Grünau in der Dahme. Bis hinter Rudow gehörte dieser Teil des Teltowkanals zu Westberlin, das nördliche Ufer jedoch – wie das in dieser verrückten Zeit in Berlin oft so war – zu Ostberlin! Man konnte hinübersehen auf Streckmetallzäune, dahinter Hunde und Soldaten. Ja, man konnte sogar hinüberklettern über eine gesprengte Brücke, die in der Mitte gebrochen war und ins Wasser hing. Auf dem ostberliner Ufer führte vor dem Zaun ein schmaler Weg am Kanal entlang, die Böschung war dicht mit Gebüsch bewachsen, und man konnte sich dort in aller Ruhe und vor Blicken geschützt sonnen und sich den Bauch mit Himbeeren vollschlagen, die dort in großer Menge wuchsen – vor sich am anderen Ufer am Wochenende sonntäglich herausgeputzte Westberliner, hinter sich den ostberliner Grenzzaun, völlig ungestört. Die Grenztruppen ignorierten das Treiben, und die Westberliner sahen einen höchstens beim Hinüberbalancieren!

Sigrid Wiegand


Februar 2006  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis