Orte und Plätze in Schöneberg | ||||
Meine Großmutter, der
Bülowbogen und der Nelly-Sachs-Park
Jette Woydelko aus Masuren kam um die Wende zum 20. Jahrhundert nach Berlin und traf hier ihren Franz, Schneidermeister aus Pommern. Beide wurden meine Großeltern. Großvater Franz starb früh, meine Großmutter lebte bis 1948. Wenn wir sie in meiner Kindheit in den Dreißigern besuchten, fuhren wir mit den Straßenbahnlinien 74 oder 174 von Friedenau nach Schöneberg zur Bülowstraße, dort wohnte sie, im Haus Nr. 70 an der Ecke Dennewitzstraße. Das Haus wurde 1943 von einer Luftmine zerstört, deren Luftdruck meinen Onkel tötete. Heute will ich den Weg nachvollziehen, den ich so oft gegangen war. Ich laufe wie früher die Bülowstraße entlang in Richtung Dennewitzplatz und Lutherkirche, auf der linken Straßenseite. Einige der alten Häuser mit Stuck und schweren Kassetten stehen noch, viele sind Nachkriegsbauten. Ich überquere erst die Steinmetz-, dann die Blumenthalstraße, immer entlang der Hochbahn. Kurz bevor die Trasse die Dennewitzstraße überquert und zwischen den Häusern verschwindet, stand das Haus Bülowstraße 70. In meiner Kindheit fuhr der Zug direkt durch das gegenüberliegende Haus, nachdem er mit Getöse an den Fenstern meiner Großmutter vorbeigerauscht war, so daß die Gläser auf dem Aufsatz über dem roten Plüschsofa leise klirrten, auf dem ich manchmal übernachtete, wenn meine Eltern ausgingen, oder als meine Mutter im Krankenhaus war. Ich liebte den Lichtschein, den die erleuchteten Zugfenster über Decke und Wände zogen, und manchmal sah ich dem Zug nach, wie er in dem Haus verschwand, das auch ein Opfer der Bomben wurde. Heute zieht die Trasse, noch von den alten Pfeilern getragen, ihren Bogen durch verwildertes Grün, ohne den Schutz des Tunnelhauses. Anfang der 90er, als ich das erstemal über meine Großmutter schrieb, war ich schon einmal hier und habe mir die Stätte meiner Kindheit angesehen und an das kleine Mädchen gedacht, das einst unter dem Bülowbogen spielte oder auf dem Buddelplatz neben der Kirche. Auf einem alten Foto von der Ruine des Hauses Bülowstraße 70 kann man noch die Türbogen im Mauerwerk sehen, durch die ich so oft gegangen bin - ein seltsames Gefühl. Heute liegt auf dem Grundstück ein Eingang zum Nelly-Sachs-Park, den ich als un-gepflegtes, mit wildem Gras und Büschen bestandenes Gelände erinnere. Er erstreckt sich entlang der Dennewitzstraße, ursprünglich als Dennewitzpark zur Innenhofbegrünung der alten Häuser mit ihren Kellerläden und Hinterhöfen geplant. Ich bin überrascht, wie schön er geworden ist, der Nelly-Sachs-Park, der zwischen 1979 und 1987 nach Plänen der Landschaftsarchitektin Hannelore Kossel realisiert wurde. Ruhig, fast idyllisch liegt er in der mittäglichen Herbstsonne, einige Leute sitzen auf den verstreuten Bänken, lesen oder unterhalten sich, wärmen sich in den letzten Sonnenstrahlen des Jahres. Auf dem kleinen Teich sind grünköpfige Erpel mit viel Gewese beim Baden. Nur wenige Kinder sind in der Mittagszeit auf dem Spielplatz. Die Turmuhr der Luther-Kirche schlägt viertelstundenweise die Zeit. Nichts deutet auf nächtliche Unruhe und Randale Jugendlicher hin, über die von Anwohnern geklagt wird. Wenn ich in der Nähe wohnen würde, denke ich, säße ich hier öfter mit meiner Morgenzeitung und dem Frühstückskaffee in der Thermosflasche. Dann könnten mich die Menschen in der Hochbahn beim Genießen beobachten. Der Verkehrslärm um den Dennewitzplatz herum erinnert mich daran, dass ich mich mitten in der Stadt befinde. Und der ist gewaltig. In einem Gutachten aus dem Jahre 1999, erstellt von Landschaftsplanern und Gartenarchitekten im Auftrag des Stadt- und Landschaftsplanungsamtes Schöneberg, sind die Mängel dieser Gegend aufgelistet und Vor-schläge zur Verbesserung der Wohn-, Verkehrs- und Freizeitsituation erarbeitet worden. Manches ist bereits getan worden, vieles harrt noch der Umsetzung. Der Dennewitzplatz, einst als Schmuckplatz angelegt, wird im Gutachten als eine "Insel mit hoher Emissionsbelastung" bezeichnet, die Verkehrsströme sollten auf die westliche Seite des Platzes verlegt werden. Bisher umtosen sie ihn jedoch noch auf beiden Seiten, wie es der Ausbau zur "autogerechten Stadt" der 60er Jahre vorgesehen hatte, und das Hinübergelangen auf das mit hohen alten Bäumen, meist Linden und Ahorn, bestandene Dreieck ist noch ein risikoreiches Unterfangen. Bald soll mit den Bauarbeiten begonnen werden, und vielleicht wird er dann wieder eine Oase für die Anwohner, wie es auch für den Kaiser-Wilhelm-Platz geplant ist. Und in der Luther-Kirche könnten dann, wie angedacht, kulturelle Veranstaltungen stattfinden, ohne dass die Besucher um ihr Leben laufen müssen. Der Nelly-Sachs-Park ist erweitert und neu bepflanzt worden, neue Wege wurden angelegt, viele leider mit kleinen Pflastersteinen befestigt - auch auf dem Spielplatz - die Menschen mit Gelenkschäden wie mir das Gehen erschweren und den Kindern blutige Knie bescheren können. Auf dem Grundstück des oben erwähnten, zerstörten "Tunnelhauses" ist ein Übergang in den Gleisdreieckpark geplant, mit dessen Realisierung im nächsten Jahr begonnen werden soll (wir werden berichten). 1990 hatten die Anwohner eine kleinere Randbebauung und eine breite Grünschneise zum Gleisdreieck gefordert und waren mit ihrer Forderung gescheitert. Lediglich ein schmaler Weg ist hier, auf Schöneberger Seite, bereits fertiggestellt. Hier, wo einst nach Lennés Plänen der sog. "Generalszug" (s. "Schöneberg vor 200 Jahren" auf Seite 8) verlaufen sollte, kann man, wenn das Gleisdreieck einmal nach den in diesem Jahr preisgekrönten Plänen ausgebaut ist, zwischen Nelly-Sachs- und Gleisdreieck-Park hin und her flanieren. Dann wird dieses Quartier im Schöneberger Norden, das früher von hohen Mietskasernen mit viel Gewerbe in Hinterhöfen und Kellerläden bestimmt war, sich zu einer zentralen Wohngegend im Grünen gemausert haben. © Sigrid Wiegand November 2006 Stadtteilzeitung < Inhaltsverzeichnis |
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