Therapeutische Wohngruppen KORALLE
Eine Wohngruppe ist keine Ersatzfamilie
Eine therapeutische Wohngruppe am Viktoria-Luise-Platz bereitet Jugendliche auf ein selbständiges Leben vor.

Die letzten Jahrzehnte haben unserem Land Freiheit und Reichtum in früher unvorstellbarem Ausmaß gebracht. Doch der Wohlstand hat Kehrseiten: Traditionelle Werte verlieren an Gültigkeit, soziale Bindungen zerbrechen, die Gesellschaft wird immer komplexer. Immer schwerer fällt es vielen Eltern, ihren Kindern den Weg ins Leben zu ebnen. So droht manches Leben zu scheitern, bevor es richtig begonnen hat.

Am Viktoria-Luise-Platz, einem der schönsten Plätze Berlins, befindet sich eine von 3 therapeutischen Wohngruppen für Jugendliche, die das Pestalozzi-Fröbel-Haus im Rahmen des Jugendhilfeprojekts "Koralle" betreibt. Hier wohnen bis zu 6 Jungen und Mädchen mit Verhaltensstörungen und psychische Erkrankungen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Manche Bewohner waren zuvor in einer psychiatrischen Klinik, zur Behandlung von Ängsten oder Depressionen oder weil sie sich töten wollten. Einige Bewohner verweigerten den Schulbesuch, waren gewalttätig oder nahmen Drogen. Alle lagen im Clinch mit ihren Eltern, meist war der Gesprächsfaden in der Familie gerissen, die Eltern waren mit der Erziehung überfordert.

"Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit", heißt es im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Das Gesetz verpflichtet die Jugendämter zur Hilfe, wenn die Entwicklung eines jungen Menschen gefährdet erscheint. Ein Jugendlicher kann in die Wohngruppe aufgenommen werden, wenn er selbst und die Sorgeberechtigten einverstanden sind und das Jugendamt es für notwendig und geeignet hält. Das Jugendamt trägt die Kosten und erarbeitet mit dem Jugendlichen, seinen Eltern und der Wohngruppe einen Hilfeplan, der die Ziele und die nächsten Schritte festlegt. Der Jugendliche muss in einem Betreuungsvertrag den Regeln der Wohngruppe zustimmen.

"Eine Wohngruppe ist keine Ersatzfamilie, das können wir nicht leisten", sagt Viktor Scheel. Er ist einer von 4 Betreuern, die sich um die jungen Menschen kümmern. In Frühschicht, Spätschicht und Nachtschicht ist immer mindestens ein Betreuer in der Wohnung anwesend. Von Beruf sind sie Erzieher, Pädagogen oder Psychologen, und ihre wichtigste Qualifikation ist die Fähigkeit zum kompetenten Umgang mit den jungen Klienten. "Das Wichtigste sind Ehrlichkeit, Geduld und die Bereitschaft zum Zuhören", sagt Viktor Scheel. "Wir müssen den Jugendlichen Zeit lassen. Jeder hat seine eigene Geschwindigkeit, man kann nichts erzwingen." Vertrauen, Sympathie und Klarheit zwischen Betreuern und Jugendlichen entscheiden über den Erfolg der Maßnahme.

Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer, das er selbst sauber hält. Ein Wochenplan legt fest, wer einkauft und kocht, das Geschirr spült und in Gemeinschaftsraum, Bad und Klo putzt. Der Tagesablauf ist fest geregelt. Vormittags gehen alle zur Schule oder absolvieren ein Praktikum oder eine Ausbildung. Am Abend gibt es ein gemeinsames warmes Essen, am Wochenende ein gemeinsames Frühstück. Eine Köchin kümmert sich um gesunde Ernährung. Es gibt Freizeitveranstaltungen und verbindliche Termine mit Pädagogen und Psychologen.

"Man braucht viel Idealismus, um diese Arbeit zu machen", sagt die Betreuerin Katja Karsuntke. Die Arbeit mit den jungen Menschen ist schwierig, verlangt viel Erfahrung und Engagement und wird doch miserabel bezahlt. Die Unterbringung in der Wohngruppe ist teuer. Das Land Berlin ächzt unter seiner Schuldenlast und spart, bis es quietscht. Mehrmals kürzte der Senat in den letzten Jahren das Budget.

6 Monate bis 2 Jahre bleibt ein Jugendlicher in der Wohngruppe. Wenn es gut läuft, kann er danach besser mit seinem Leben umgehen. Er kommt mit Schule oder Ausbildung zurecht und weiß, wohin er sich mit Problemen wenden kann. Vielleicht kann er wieder mit seinen Eltern sprechen und bei ihnen wohnen, oder er ist selbständig genug für eine eigene Wohnung. Wenn es noch besser läuft, gelingt ihm ein erfülltes Leben, und davon profitieren dann alle: Der Staat, weil er die Folgekosten eines gescheiterten Lebens spart, die viel höher sind als die Kosten einer Wohngruppe. Die Betreuer, weil ihr Idealismus Früchte trägt. Die Eltern, die teilhaben am Leben ihrer Kinder. Und am meisten die Jugendlichen selbst, denn es sind ihr Leben, ihr Glück und ihre Zukunft, die auf dem Spiel stehen.

Michael Lang

koralle -
Therapeutische Wohngruppen
Barbarossastraße 64, 10781 Berlin
Telefon: 217 30 167
Email: twg.koralle@pfh-berlin.de

September 2006  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis