Orte und Plätze in Schöneberg

Der Crellekiez: lebendig, vielfältig, multikulturell - und stets im Wandel

Wer kennt ihn nicht, den ‚Crellekiez': Zwar ist es nur ein kurzer Straßenabschnitt vom Kaiser-Wilhelm-Platz bis zur Sackgasse an der Einmündung Helmstraße, aber doch als ‚eigener Kiez' nicht nur den Schönebergern ein Begriff, großstädtisch und verträumt zugleich, eine Oase der Ruhe, wenige Schritte von der lärmenden Hauptstraße entfernt. 

Seit der Stadtteilsanierung in den neunziger Jahren ist die Straße verkehrsberuhigt, zwei Kinderspielplätze wurden gebaut, der Durchgangsverkehr auf Radfahrer beschränkt. So konnten Anwohner, Ladenbesitzer und Cafébetreiber den Straßenraum nach und nach für sich erobern. Selbst noch an lauen Herbstabenden sind die Bürgersteige bis spät nachts bevölkert. Unter Schirmen dicht besetzte Tische verbreiten südeuropäisches Flair. 
Wer am Tage hier entlang schlendert, kann manch Skurriles, Einmaliges in den Geschäften oder stilvoll renovierten Gewerbehöfen entdecken. Auch die hier angesiedelten Büros von Vereinen oder Projekten der Stadtteilarbeit tragen zur besonderen Kiezkultur bei. So verschieden wie die Bewohnerstruktur ist das Angebot der kleinen Läden, wenn auch oft auf den ersten Blick nicht gleich ersichtlich: Meist lohnt es, einfach mal hineinzuschauen: Oft bedient der Eigentümer selbst, gibt fachliche Beratung, oder man findet eben Zeit für einen Plausch.

Auch in der Crellestraße mussten Ladenbesitzer schließen: Vor Kurzem erst das moderne Antiquariat ‚Candide' trotz seiner aktuellen Fachliteratur und Belletristik. Ebenso erging es dem Tee- und Kräuterladen oder der jahrelang hier ansässigen Maßschneiderin Crelline.

‚SiebenKinder', der Laden für Kinderbekleidung aus Naturstoffen, hat zum Jahresende aufgegeben. Es hätte mindestens noch zwölf Monate gebraucht, bis das Geschäft sich getragen hätte, erklärte mir die Inhaberin Frau Wetzel, aber sie habe einfach zu wenig Zeit für die Familie gehabt. Von der nahen Hauptstraße verirrt sich noch zu selten Laufkundschaft hierher. Viele Gewerbetreibende hoffen, dass die Straße nach dem Umbau des Kaiser-Wilhelm-Platzes mit schönerem Fußgängerareal besser wahrgenommen wird. 

Kreatives Flair zieht Kreative an

Doch ein Leerstand in der Ladenzeile ist schon jetzt meist nur von kurzer Dauer. Für weitere Schnäppchenläden oder Shopping-Malls ist die ‚B-Lage' zum Glück nicht interessant. Selbst-ständige und Existenzgründer fühlen sich dagegen angezogen vom nachbarschaftlichen Ambiente und finden die innovativen Ideen der Umgebung für den eigenen Erfindungsreichtum anregend. So beschreiben Andrea und Michael, Geschäftsführer der Agentur für Werbung und Events ‚zoom2 communications' ihr Umzugsmotiv hierher. Seit fünf Jahren schon gibt es ihren Marketingservice von Visitenkarten über Videoclips bis hin zum Messebau. 

Neu ist am ‚Crelleplatz' auch das Büro für Möbeldesign: Durch die Glastür kann man über sechs steile Stufen empor einen kleinen Raum erspähen, der - in orangefarbenes Licht getaucht - wie eine schicke Bar anmutet. Doch die Visitenkarte an der Tür klärt auf: Raum - Licht - Möbel - Design und Veredelung. Auch das ‚Jukeland', seit vielen Jahren nebenan und selten geöffnet, gab schon Anlass zu Rätseln. Glück gehabt: Heute steht die Tür weit offen und ich verstehe: Der Zettel mit den Öffnungszeiten ist nur zu sehen, wenn die Rollläden hochgezogen sind. Darauf angesprochen, lacht die Verkäuferin: Die Kunden kommen vor allem über das Internet, so ist das bei Spezialgeschäften. Hier wird ‚All American' vermietet und verkauft: Musikboxen oder Diner-Einrichtungen, schöne Deko, metallisch glitzernd, eigentlich ein Laden zu Stöbern.

Kurios sind beim Museum der Unerhörten Dinge die Exponate, die fantastischen Geschichten und die Öffnungszeiten: Der Eigentümer dieses privaten Museums sammelt ‚skurrile Dinge': das Fell eines Bonsai-Hirsches oder Spuren eines Gedankenblitzes! An der Tür bittet der Museumsdirektor auf handgeschriebenem Karton um Verständnis für unverhofftes Geschlossensein und teilt mit, dass dies stets wichtige, unaufschiebbare Gründe habe, wie die ‚neuerliche Dingsuche' oder, wenn das Museum mit seinen 52 transportablen Exponaten unterwegs sei. Auf der Homepage ist - augen-zwinkernd - zu erfahren, dass es sich um das meist besuchte Museum der Stadt handelt, setzt man die Gästezahl in Relation zur winzigen Ausstellungsfläche.

Der Blumenladen ‚Mr. Flower' ist im Sommer hierher gezogen und meint sein Motto ‚Blumen für Berlin' wörtlich: Die frischen Schnittblumen sind sehr dekorativ, der Laden ist jedoch verblüffend leer. So soll es auch bleiben, erklärt die freundliche Bedienung, denn sie bieten vor allem einen Lieferservice, ab 10 Euro Bestellwert innerhalb des Stadtgebiets kostenfrei, Blumentransport im Wasser garantiert.

Ein paar Schritte weiter verheißt ein schön geschwungener, alter Schriftzug: Moderne Schuhreparatur. Ömer Uzunömer, der Schuhmachermeister türkischer Abstammung, war 32 Jahre bei Mister Minit angestellt, solange es noch das Kaufhaus Bilka in der Hauptstraße gab. Statt arbeitslos wurde er vor zwölf Jahren lieber selbständig, nun zusätzlich mit Schlüsseldienst. Arbeit gibt es für ihn genug, sagt Herr Uzunömer, nur die Miete und die Steuern sind zu hoch.

Schon ‚ewig' gibt es das Second-Hand-Geschäft für Hifi- und Bürotechnik, wo auch repariert wird, seit ein paar Monaten erst die Glaserei gegenüber. Ein paar Eingänge nach links hat die gemeinnützige Sozialstation Ambulante Krankenpflege Berlin, die nur mit ausgebildeten Pflegekräften arbeitet, schon lange ihren Standort. Rechterhand ist neuerdings der ‚Medienpoint' Kulturring e.V., eine Job-Center-Initiative, die gebrauchte Bücher und andere Medien nicht nur gratis annimmt, sondern genauso weitergibt. 

Ein Laden des täglichen Bedarfs, wie die Kulturinsel, hat es momentan auch nicht leicht: Als das kolumbianisch-französische Inhaberpaar vor 15 Jahren den Zeitungsladen übernahm, gab es bald außer Tabakwaren und Zeitschriften ein umfangreiches Sortiment an Weltmusik-CDs. Isabelle Leroux klagt: Die Preise für Magazine und Tabak steigen ständig. Eine Zeitschrift kostet heute so viel wie ein Buch! Und der Musikmarkt? Entweder kaufen die Leute bei Dussmann oder sie gehen ins Internet. Ob sie sich etwas erhofft vom Platzumbau? Wohl kaum ! ‚Den Leuten fehlt es doch vor allem an Geld.'

Vorn am Kaiser-Wilhelm-Platz neben dem Fahrradbüro hat Renata Linke mit ‚Schmuckels' den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt: Sie verkauft Kunsthandwerk, meist Einzelstücke, für Künstler aus Berlin und Umgebung. Bei Auslandsware achtet sie auf ‚Fair Trade'. Erstaunlich, wieviel ‚Creatives jeder Couleur' in dem kleinen Laden Platz findet, vor allem Schmuck, Kerzen, Figuren, sogar Ikonen-Nachbildungen. Die Brettspiele und Pappmaché-Köpfchen stammen aus der Behindertenwerkstatt Mosaik.

Dass fast die Hälfte der Bewohner in der Crellestraße nichtdeutscher, meist türkischer Herkunft ist, ist an den Läden nicht erkennbar. Nur der Verein Stadtteil-VHS, der Kurse für ausländische Jugendliche bietet und die türkische Moschee ‚Kuba Camii' von Hanefi Tüzen sind Treffpunkte. Seit 1967 schon betreibt er das islamische Gotteshaus mit einem kleinen Café, in dem jeder Mensch für 30 Cent einen echten ‚Cay' (Tee) trinken kann. In dem fast schmucklosen Raum kann man sich zeitlos fühlen, Urlaubserinnerungen tauchen auf. Vor und nach den Gottesdiensten, die fünf mal täglich, sieben Tage die Woche stattfinden, füllt sich der Bürgersteig vor dem Ladeneingang mit türkischen Besuchern. Einmal im Monat gibt es für mittellose moslemische Bürger warmen Mittagstisch umsonst. Sehr viele kommen, sagt Herr Tüzen, es hat sich herumgesprochen. Er fühlt sich sehr wohl im Kiez, ihm gefällt die Atmosphäre des friedlichen Nebeneinanders von Türken und Deutschen. Er wünscht sich noch mehr Leben auf der Straße und im Café, wie in Zeiten des jährlichen Crellefestes.

Gesunde und kulinarische Genüsse

Die ‚Biosophie: Naturkost und Naturkosmetik', seit drei Jahren geführt von der Biologin und Gesundheitspraktikerin Anneliese Kaltenböck, steht für gute, gesunde Ernährung und Körperpflege, wie mit basischen Pflegemitteln oder speziellen Heilwässern. Service und Beratung wird in dem geräumigen Geschäft am Crelleplatz groß geschrieben: Wer in der feinen, aber natürlich begrenzten Auswahl nicht fündig wird, für den bestellt die Chefin gern, die Lieferung folgt in wenigen Tagen. Das wochentäglich frisch zubereitete vegetarische Mittagssüppchen erfreut sich bei Stammkunden großer Beliebtheit. 

Ein Feinkostladen mit origineller Angebotspalette ist vorn am Kaiser-Wilhelm-Platz gelegen: Es gibt „Ebbes“ seit gut zwei Jahren hier: Schwäbische Lebensmittel, von täglich neuen Maultaschen, Samstags Laugengebäck und Dinkelseelen, bis hin zu Obstbränden und Eingemachtem, alles direkt vom Bauernhof im Hohenlohekreis. Der Inhaber Wolfgang Stepper erläutert gerne auch Nicht-Schwaben Traditionen und Zutaten. 

Die anfangs erwähnte Gaststättenbranche bietet eine weltstadtwürdige Vielfalt von Kneipen, Cafés und Restaurants nahezu aller Kontinente und für verschiedene Portemonnaies: Soll es ein Sonntagsbrunch mit üppigem Frühstücksbuffet wie im Toronto sein oder ein Mix orientalischer Spezialitäten wie im Cafe Mirell, möchten Sie abends italienisch speisen in der Trattoria Erks, oder lieber spanisch/südamerikanisch im Pasodoble, asiatisch im neu eröffneten Sushi-Lokal oder vietnamesisch? - Das Van Xuan, vor zwei Jahren direkt am Platz eröffnet, ist mit Bambus und gedämpftem Licht ein Ort der Ruhe: Frau Dr. Chan Thi, die in Berlin studierte, schildert ihr Konzept: Kein Glutamat, kein Schweinefleisch, wenig Fett, dafür reichlich Kräuter werden verwendet, typisch vietnamesisch gibt es viele Vorspeisen, sowie Mittagsmenu.

Und: nicht zu vergessen in der Straße der Gegensätze: Der Leuchtturm, die seit Jahrzehnten existierende ‚Kneipen-Institution', berühmt-berüchtigt für lange Nächte mit Diskussions-, Kicker- oder Doko-Runden.

Brandneu gibt es seit Mitte Januar die private ‚Bahnagentur Schöneberg'. Peter Koller hat sich zum Ziel gesetzt, verzweifelten DB-Kunden zu den günstigsten Verbindungen zu verhelfen. Im Kundengespräch wird schnell klar: Der Mann hat das nötige Hintergrundwissen, um sich durch den Tarifdschungel zu schlagen. Auch Bahncards können ausgestellt werden. Der Inhaber hofft, dass er bald auch Samstags öffnen kann, wenn die Nachfrage steigt. 

Also: Kommen Sie mal vorbei, wenn Sie eine ausgefallene Geschenkidee suchen, oder um zu schauen, ob es schon wieder etwas Neues gibt im Crellekiez!

Elke Weisgerber

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Februar 2007  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis