Einfach abgehängt - ein Buch über die Armut in Deutschland

Wir sind arm an Wissen über Armut


Pfarrer Lübke sammelt Lebensmittelspenden von einem Supermarrkt in der Cranachstraße

"Eigentlich müsste sich die Gesellschaft schämen", sagt Pfarrer Lübke. "Stattdessen schämen sich die Armen. Sie versuchen ihre Armut zu verbergen." Seit August 2005 betreibt die evangelische Philippus-Nathanael-Kirchengemeinde einen Diakonieladen in der Rubensstraße, in dem montags Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden. 

Empfangsberechtigt ist, wer weniger als 900 Euro monatlich zum Leben hat und im Einzugsbereich des Ladens wohnt. Der zweite Teil der Regel wird nicht streng durchgesetzt. Pfarrer Lübke: "Oft kommen Menschen aus anderen Stadtteilen, weil sie nicht von Nachbarn und Bekannten in der Warteschlange vor der Lebensmittelausgabe gesehen werden möchten. Wir verstehen das und machen dann eine Ausnahme."

Immer mehr Menschen rutschten in den letzten Jahren unter die Armutsrisikogrenze, die für einen Ein-Personen-Haushalt bei 938 Euro monatlich liegt. Die häufigste Ursache für materielle Not ist der Verlust des Arbeitsplatzes. Daneben wächst der Niedriglohnsektor: Immer häufiger reicht der Lohn auch bei Vollzeitarbeit nicht zum Leben. 11 Mio. Deutsche leben unter der Armutsrisikogrenze, 7 Mio. auf Sozialhilfeniveau (345 Euro, Miete, Heizung), 4 Mio. sind arbeitslos, 3 Mio. überschuldet.

Viele Betroffene empfinden ihre Misere als Versagen und als Schande und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück. Nicht-Betroffene wissen oft wenig über das Leben von Armen und Arbeitslosen. Vorurteile geistern durchs öffentliche Bewusstsein, Schlagworte wie Sozialbetrug und Faulheit, soziale Hängematte und Verwahrlosung, Unterschicht und Schmarotzertum. "Wir sind arm an Wissen über Armut", sagte Heiner Geißler, das soziale Gewissen der CDU. 

Der taz-Journalist Jens König und die Berliner Autorin Nadja Klinger haben ein Buch geschrieben, das dieser Unwissenheit abhelfen soll: "Einfach abgehängt" stellt dem Leser in 12 Porträts Menschen vor, die wissen, was Armut bedeutet - die meisten, weil sie sozialen Abstieg und Ausgrenzung am eigenen Leib erfahren haben, einige, weil ihr Beruf sie mit Arbeits- und Obdachlosigkeit konfrontiert.
Die Porträts sind einfühlsam und spannend geschrieben. Der Leser taucht ein in die Welt der Protagonisten, sieht die Gesellschaft durch ihre Augen, lernt die bestimmenden Motive ihres Lebens kennen. Zerrüttete Familien werden beschrieben: Mädchen, die jung zu Müttern werden und ohne Schulabschluss und Berufsausbildung ins Leben starten, Kinder ohne Väter, Mütter, die verzweifelt in Billigjobs um den Lebensunterhalt für ihre Familie ringen. 


Jeden Montag, 15-17 Uhr, verteilen Ehrenamtliche Lebensmittel im Diakonieladen an Bedürftige

Schulisches Versagen steht oft am Anfang einer Armutsbiografie - in keinem entwickelten Land haben Menschen ohne Ausbildung so schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie in Deutschland, nirgendwo hängt der schulische Erfolg so stark von der sozialen Herkunft ab. Das Buch erzählt von Menschen, die der trostlose Arbeitsmarkt in die Selbständigkeit treibt, von solchen, die scheitern und in Schulden versinken, und von solchen, denen eine prekäre Existenz gelingt. Und es schildert die typischen Biografien der neuen Bundesländer: Gut integriert bis zum Bankrott der DDR, arbeitslos im vereinigten Deutschland, gelegentliche ABM-Projekte, ab 2005 Hartz IV, am Ende als rettender Hafen die Rente.

Neben den Porträts enthält das Buch theoretische Kapitel, die das Erscheinungsbild der Armut in Deutschland beschreiben (nicht absolute, sondern relative Armut; eher Ausgrenzung als Hunger) und Grundzüge einer intelligenten Armutspolitik skizzieren (bessere Bildungspolitik, Umbau des Sozialstaats, Abschied vom Glauben an die Vollbeschäftigung). Diese Kapitel sind gut recherchiert und differenziert und kenntnisreich geschrieben, fallen aber gegenüber den Porträts etwas ab. Eine Analyse der Ursachen der Arbeitslosigkeit bleiben die Autoren ebenso schuldig wie Konzepte, die Bekämpfung von Armut mit solider Finanz- und Wirtschaftspolitik in Einklang bringen.

Waren die Reformen der letzten Jahre mit ihren Einschnitten ins soziale Netz nicht notwendig, Herr Lübke? Sind nicht wichtige Investitionen in die Zukunft nur finanzierbar, wenn im sozialen Bereich gespart wird? "Das ist wie bei einem Haus, an dem die Fassade bröckelt und die Tapeten vergilbt sind", sagt Pfarrer Lübke. "Wenn die Bewohner hungern und frieren, kauft man zuerst Lebensmittel und Kohlen. Und wenn's dann für die Renovierung nicht mehr reicht, wartet man bis zum nächsten Jahr, dann ist immer noch Zeit."

Michael Lang

Nadja Klinger und Jens König
Einfach abgehängt
Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland
Rowohlt · Berlin Verlag, 2006; 256 S., 14,90 Euros

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Februar 2007  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis