Stummfilme auf der Berlinale 2007 | ||||
Die "Neue Frau" im
Spiegel ihrer Zeit
Auf dem Einsegnungsbild meiner Mutter aus dem Jahr 1918 (als die Frauen das Wahlrecht erhielten) blickt mich ein steif dastehendes, verlegenes Mädchen mit knöchellangem Kleid und großer Schleife im Mozartzopf an. Nur ein paar Jahre später flanierte sie mit Herrenschnittfrisur (Ohren frei und Nacken ausrasiert) und kniekurzem Sackkleid mit ihren Freundinnen - alles junge Angestellte wie sie selbst - die Rheinstraße entlang und traf sich mit den jungen Verkäufern der Gegend in den Friedenauer Cafés, in denen zu Apfelkuchen mit Sahne ein Stehgeiger spielte. Aus dem schüchternen Lieschen war die flotte Lisa geworden. Geboren etwa zwischen 1895 und 1905, traten
sie nach dem Ende des 1. Weltkrieges auf den Plan, die jungen Frauen und
Mädchen, die durch die Not- und Hungerjahre des Krieges gegangen waren,
oft Väter oder Verlobte verloren hatten, deren Arbeit viele der älteren
unter ihnen hatten übernehmen müssen, wobei Korsetts und bodenlange
Röcke sich als hinderlich erwiesen. Vorbereitet worden war der Boden
durch den Kampf der Frauenrechtlerinnen, die Notwendigkeiten von Kriegs-
und Nachkriegszeit trieben die Entwicklung voran: die Männer waren im
Krieg, viele kamen verstümmelt oder gar nicht zurück; es herrschten
Frauenüberschuss und sinkende Geburtsraten, und die Frauen begannen die
Berufswelt zu erobern, ökonomisch unabhängig und selbstbewusst zu
werden. Oft allerdings war in jenen Jahren die Berufstätigkeit für
Frauen noch keine Chance, sondern Notwendigkeit. Wer Geld hatte,
amüsierte sich - wie immer war es diese schmale Schicht, die das Bild
einer Epoche prägte (die "goldenen" Zwanziger"!) - und die
Frauen der Arbeiterklasse sorgten für das Überleben ihrer Familien. Die diesjährige Berlinale widmete sich in
ihrer Retrospektive unter dem Titel "City Girls" diesem Bild der
unabhängig gewordenen jungen Frauen in den Städten, das seit den 10er
Jahren des 20. Jh. von der neu entstandenen Filmindustrie in zunächst
noch stummen Filmen in unterschiedlichen Facetten gezeichnet worden war.
Immer aber waren es rebellische Mädchen und Frauen, die sich und ihre
Möglichkeiten ausprobierten, Erfolg hatten oder scheiterten. Natürlich
lösten die Unabhängigkeitsbestrebungen der neuen Frauen Ängste und
Befürchtungen bei den konservativen Schichten und besonders auch bei
vielen Männern aus, und in so manchem Melodram endete die
Freiheits-liebende in Elend und Not - das hatte sie nun davon! Dieses
veränderte Rollenverständnis der Frau, die bald die "neue
Frau" genannt wurde, war gleichzeitig Ausdruck politischer und
gesellschaftlicher Veränderungen, die alle Bereiche des Lebens prägten:
Kunst und Kultur, Literatur, Architektur und Wissenschaft, Sport und
Freizeit. Sigrid Wiegand . |
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