Von der Königin Luise zum Philosophen Paul Natorp
Friedenaus erste höhere Mädchenschule wird 100!

"In der Sitzung des Gymnasialkuratoriums vom 9. Dezember 1904 regte Herr Bürgermeister Schnackenburg die Gründung einer öffentlichen höheren Mädchenschule an und hob hervor, dass es bei der schnellen Entwicklung des Ortes Friedenau zur Notwendigkeit geworden sei, eine solche Schule einzurichten, nachdem die Gemeinde in weitestgehendem Maße ihre Fürsorge für die männliche Jugend bewiesen habe - nämlich durch die Gründung des Gymnasiums am Maybachplatz im Jahre 1897 und der Realschule (der jetzigen Rheingauschule) im Jahre 1906." Am 9. April 1907 fand die Eröffnungsfeier der neuen Schule statt. Die Zahl der Schülerinnen betrug 145 (am Ende des 1. Schuljahres 214), das Kollegium bestand aus dem Direktor (Hannemann), einem Lehrer und sechs Lehrerinnen.

Die Paul-Natorp-Schule in der Goßlerstrasse feiert also in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Meine alte Schule - darum muss ich mich kümmern! Ich stoße auf der Webseite auf eine "Ag. Festschrift", die u.a. nach Ehemaligen sucht, auf einem Formular kann man berichten, was einem so alles zur eigenen Schulzeit einfällt. Damit kann ich dienen als vormalige Schülerin der Königin-Luise-Schule, die seit 1946 Paul-Natorp-Schule heißt nach dem Philosophen und Reformpädagogen. Es soll damals sogar Rosa Luxemburg als Namengeberin im Gespräch gewesen sein, aber so genau weiß das heute niemand mehr. Für diesen Namen war im Westberlin von 1946 sicher nicht die richtige Zeit...

Als ich 1942 auf die Königin-Luise-Schule kam, war sie noch in ihrem Ursprungszustand mit den majolikaverzierten Säulen und dem Glasdach über der als Lichthof inmitten des Gebäudes gelegenen Aula, durch offene Arkaden zwei Stockwerke hoch von den sie umgebenden Gängen getrennt (schöne Fluchtwege vor Lehrern, die einen in den Pausen auf den Schulhof treiben wollten!), erbaut 1911 von Hans Altmann, dem Friedenau einige repräsentative Bauten verdankt, nachdem der Unterricht in den ersten Jahren in der heutigen Stechlinsee-Schule stattgefunden hatte. Die meisten jüngeren Lehrer waren im Krieg, was der Schule in den 40ern den Spitznamen "das Altersheim" eintrug. Nach einem Jahr gingen dann auch die Schülerinnen: alle Kinder und Jugendlichen mussten die großen Städte verlassen, um vor den Bomben geschützt zu sein, und die Schulen wurden geschlossen. Viele fuhren klassenweise in sog. KLV(=Kinder-landverschickungs)-Lager, andere, wie auch ich, mit ihren Müttern und Geschwistern zu Verwandten aufs Land. Im Sommer 1944 war es auch in Masuren, wo wir bei einer Tante untergekommen waren, nicht mehr sicher, und wir kehrten ins zerstörte Berlin zurück. Unser Wohnhaus in der Rheinstraße stand zum Glück noch, aber die Königin-Luise-Schule war schon im Sommer 1943 durch Bomben schwer beschädigt worden. Wahrscheinlich war es die zentrale Lage der Aula, die sozusagen wie ihr Bauch offen inmitten der Schule liegt, die das Gebäude vor der endgültigen Zerstörung gerettet hat.

Wir langsam wieder in die Stadt zurückkehrenden Jugendlichen wurden durch einen sog. Schulappell aufgefangen: jeden Morgen Meldung in der Schule, auf einer Liste wurde abgehakt, wer da war, Fehlen wurde übel vermerkt, es sei denn, man war über Nacht ausgebombt worden... Die Aula sah schlimm aus: das Glasdach zerborsten, seine Metallstreben hingen verbogen herunter, die Majolikaverzierungen zum Teil abgeschlagen, Trümmer und zerschlagene Möbel füllten den Raum - ausgebombte Menschen hatten gerettetes Mobiliar hier untergestellt und nun endgültig verloren.

Nach Kriegsende ging der Unterricht im Mai 1945 wieder los. Vieles war neu. Noch herrschte die russische Besatzungsmacht über die Stadt, und wir mussten Russisch lernen. Der Direx, Dr. Gloege, machte die ersten Versuche, uns über das Unrecht im Nationalsozialismus aufzuklären. Und als dann im Juli die Amerikaner nach Berlin kamen und Friedenau dem amerikanischen Sektor zugeschlagen wurde, begannen wir die Regeln der Demokratie zu lernen. Der Zustand der Schule war noch immer schlimm, der Unterricht musste teilweise in die Grundschule Offenbacher Straße ausgelagert werden, besonders dann im Winter, als das Schulgebäude nicht beheizt werden konnte. 1949/50, als ich die Schule bereits verlassen hatte, wurde der Dachstuhl repariert und 1956 vorerst die Innenrenovierung beendet.

Weil ich Informationen über die Paul-Natorp-Schule von heute und die Hundertjahrfeier suche, verabrede ich mich mit dem Lehrer Robert Fuß, dem Leiter der "Ag. Festschrift". Als er hört, dass ich eine "Ehemalige" noch aus der Kriegszeit bin, ist er der Meinung, dass wohl eher ich diejenige sei, die mit interessanten Informationen aufwarten könne. Wir werden uns also gegenseitig etwas zu erzählen haben. Ich bin offenbar lange nicht mehr durch die Goßlerstrasse gegangen und sehe zu meinem Erstaunen, dass die Schule bereits wieder eine Baustelle ist. Die Fassade ist zum Teil eingerüstet, von den drei Vordertüren nur eine zu benutzen, und als ich endlich drin bin, kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus: wo ist die Aula geblieben, die einen als erste "begrüßte", wenn man das Gebäude betrat? Mein inneres Bild von meiner alten Schule beginnt zu wanken, ich suche mühselig die Treppe in den 1. Stock und finde schließlich auch Herrn Fuß und seine "Ag. Festschrift", einige Abiturientinnen und Mädchen aus der 10. Klasse. Keine Jungen? Keine Jungen. Die Jungen sind in diesem Gymnasium (und wohl auch in anderen Gymnasien) in der Minderzahl und auch hier nicht vertreten... Ich wundere mich. Wir einigen uns, dass zuerst ich etwas über die alten Zeiten erzähle und wie es hier zuging. Ich berichte über die Umstände der Kriegs- und Nachkriegszeit, gebe auch ein paar Döhnches zum besten, werde aber auch durch die Fragen der Schülerinnen zum Nachdenken angeregt: wie war das in der Kriegszeit, wurde viel über den Nationalsozialismus gesprochen, musste man in Uniform zur Schule kommen, wie waren die Lehrer nach dem Krieg, waren das noch dieselben, was haben sie dann gesagt? Ja, wie war das? Natürlich wurde auch über den Nationalsozialismus gesprochen, das war ja der Alltag, aber ich erinnere mich an keinen Lehrer, der besonders agitiert hätte. Vielleicht habe ich das auch vergessen, 60 Jahre und fast mein ganzes Leben liegen dazwischen. Trotzdem fallen mir viele Einzelheiten ein. Manchmal zog ich die Uniformjacke, die Kletterweste, zur Schule an, wenn gerade nichts anderes zur Hand war, aber das war eher Ausnahme. Einige der alten Lehrer waren auch nach dem Krieg noch oder wieder da, aber ich erinnere mich nur an die ersten Gespräche mit Direktor Gloege über den Nationalsozialismus, die so seltsam peinlich gewesen waren. Warum peinlich? Vielleicht hatte es etwas mit Rechtfertigung zu tun, ich weiß es nicht mehr.

Und nun möchte ich etwas über die Paul-Natorp-Schule von heute und über die geplante Jubiläumsfestschrift wissen. Zunächst einmal: die Feier kann erst 2008 stattfinden, hoffentlich im Frühjahr, vorher sind die Bauarbeiten nicht beendet. Ich erfahre, dass es sich um die erste grundlegende Restaurierung des unter Denkmalschutz stehenden Schulgebäudes seit den Kriegszerstörungen handelt. Vorher waren nur die gröbsten Schäden behoben worden, damit die Schule wieder funktionstüchtig wurde. Jetzt wird sie wieder so hergestellt, wie sie ursprünglich war. Daher ist die Festschrift auch noch nicht in allen Einzelheiten ausgearbeitet. In drei großen Kapiteln soll über die Geschichte der Schule und ihres Gebäudes berichtet werden, über die Zeit seit 1945 und ab Mitte der 70er Jahre und über die "neue Zeit" unter Schulleiter Herrn Rhode, der die Schule mit Liberalität und musischer Ausrichtung geprägt hat. Es wird auch einen Artikel über Paul Natorp geben und über den Oslo-Schüleraustausch, der einst von Willy Brandt angeregt worden war. Fachbereiche und Ag.s werden sich mit ihren Aktivitäten vorstellen und Schüler werden Lehrer interviewen. Für das Frühjahr 2008 ist eine Festwoche geplant mit einem Festakt und musikalischen und schauspielerischen Darbietungen. Das klingt alles sehr vielversprechend, und man darf gespannt sein!
Und die Schülerinnen? Ich möchte wissen, wie das denn heute so ist in und mit der Schule: wie sind die Lehrer heutzutage (partnerschaftlich, autoritär, nehmen sie einen ernst?) Es wird etwas gedruckst, Herr Fuß bietet scherzhaft an, den Raum zu verlassen; aber sie sind sich doch einig, dass eine lockere Atmosphäre besteht. Sie haben ein verbrieftes Mitspracherecht, das ja schon in seiner frühen Form 1945 eingeführt wurde (und das an dieser Schule bereits in den 1920ern praktiziert und im Nationalsozialismus abgeschafft worden war), es gibt Schülersprecher, Vertrauenslehrer und Mediatoren. Alles in allem, man kann es aushalten. Und die Hierarchie? Nun, Schule bleibt eben Schule... Und haben sie schon Pläne für "nachher"? Studium? Erstmal ins Ausland, sagen einige, dann weitersehen. Gute Vorsätze, ich wünsche viel Erfolg!

Herr Fuß bietet mir noch eine Schulführung an, die ich nur zu gern annehme. Es geht durch die wohlbekannten langen Gänge, immer an der Aula entlang, aber die ist immer noch nicht zu sehen, die Arkaden sind mit Pappwänden verkleidet, dahinter wird gebaut. In ihrem jetzigen Zustand erinnert mich die Schule fatal an die Zeit nach dem Krieg: Bauschmutz und -schutt, aus den Wänden hängende Leitungen, unbenutzbare Räume, der Unterricht ist wieder einmal ausgelagert. Alles wird erneuert. Wir klettern bis unters Dach, wo ich noch nie gewesen bin. Einige Räume kommen mir vor, als hätte ich sie erst gestern verlassen: der Physiksaal, die Turnhalle! Sogar die alten verschiebbaren Pfeiler für die Reckstangen gibt es noch. In einer regelrechten Bauhütte werden die Kapitelle der Pfeiler hergestellt und die Giebelfiguren, die sich im Laufe der Jahre unbemerkt zu neigen begonnen hatten und herunterzustürzen drohten. Jetzt zieren sie restauriert die Giebel an der Vorderfront. Ob ich auch noch die Aula sehen wolle? Ich warte ja die ganze Zeit darauf! Klein kommt sie mir vor, wie das so ist bei der Begegnung mit der Vergangenheit. Ein ungewohnter Anblick: der Boden ist ausgeschachtet, es wird eine Sprinkleranlage eingebaut, und das sieht noch ganz schön wüst aus. Aber sonst ist alles so, wie ich es aus den 70er Jahren, als meine Kinder die Schule besuchten, in Erinnerung habe, eher nüchtern ohne die Majoliken meiner Jugend. Aber wenn nach Fertigstellung der Bauarbeiten der Blick wieder frei durch die Arkaden schweifen kann und das Licht durch das Glasdach den Raum durchflutet, dann wird die Aula die Hereinkommenden wieder willkommenheißen!

Sigrid Wiegand

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März 2007  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis