Musik erlebt
Musik als versteckte Leidenschaft

Schon immer stand bei uns zu Hause ein Klavier (herum). Meine Mutter spielte ganz passabel darauf. Weil hauptberuflich Hausfrau, musste sie von Zeit zu Zeit regelrecht zu einer Kostprobe ihres Könnens von uns Kindern animiert werden. Neben dem Zauber der Melodie bekam ich dann als Beigabe den schmerzlichen Unterschied zwischen Können und Wollen frei Haus mitgeliefert.

Damals bestand für mich ein Zusammenhang zwischen der Größe des Klaviers und der Angst davor, es eventuell beherrschen zu müssen. Wenig mutig begann ich daher mit einer Mundharmonika. Zu meiner eigenen Überraschung jedoch schon bald mit gewissem Erfolg. Dieses konnten auch meine beschäftigten Eltern nicht überhören. Sie definierten mich darauf hin als potentiell musikalisch. Allerdings sogleich in einem höheren Sinne, als es eine Mundharmonika für sie verkörperte. So bekam ich professionellen Unterricht. Nichts bot sich da mehr an als das ohnehin vernachlässigte und kostengünstige Musikmöbel des Hauses. Ganz unterschwellig ließ sich die Mutter dabei wohl auch ein wenig auf Kompensationsgelüste für ihre eigenen musikalischen Entsagungen ein.

Zu dieser Zeit wohnten wir "Ohr an Ohr" mit einer weiteren kinderreichen und musikbegeisterten Familie in je einer Doppelhaushälfte unter einem Dach zusammen. Den Nachbarkindern mangelte es, bei allem Fleiß, an musischer Einfühlung. Unsere Familie war über lange Zeit dazu verurteilt, an den stagnierenden Bemühungen der Gegenseite unfreiwillig teilzuhaben.

Meine ursprünglichen Ambitionen für Mundharmonika waren unter solchen Voraussetzungen nicht das geeignete Gegenmittel. Im Kleinkrieg rivalisierender "Leiden"schaften bin ich dann wohl über zwei Jahre als musikalische Speerspitze missbraucht worden. Zum Ende hin verstand man allgemein nicht, warum die Stagnation trotz finanzieller Opfer nun auch auf mich übergegangen war. Erst Jahre später erinnerte ich mich an meine musikalische Eigeninitiative und holte meine alte Mundharmonika wieder hervor.

Irgendwann, vom Klang einer Mundorgel immer noch angetan aber vom stets geschwollenen Mund weniger, kam mir die Idee mit dem Akkordeon. Dadurch glaubte ich dem geliebten Klang einigermaßen treu zu bleiben. Nach kurzer inkompetenter Suche führte ein stolzer Besitzer eines roten, pompösen Kastens aus Klingenthaler DDR-Produktion sein neues Instrument zu Hause ein. Bei ruhiger Prüfung stellte sich schnell heraus, dass ich mir keinen Gefallen getan hatte. Das Klagvolumen war bescheiden und entsprach wohl exakt dem erschwinglichen Preis. Nun ja, ich ließ mich nicht entmutigen und beschaffte mir einen bezahlbaren Akkordeonlehrer. Nach einer unglücklichen Frustperiode mit dem unzulänglichen Instrument wie dem unzulänglichen Lehrer, distanzierte ich mich von beiden. Allen Anfangsschwierigkeiten zum trotz war ich mir jedoch im Klaren, dass es sich nicht um ein Scheitern im Sinne des Unterrichts aus meiner Kindheit handeln konnte. Jetzt ging es gezielt auf die Suche nach Qualität. Das neue Instrument wurde auf einer Musikbörse erstanden - der Lehrer sein Geld wert. Erfolg und Freude stellten sich prompt ein.

Inzwischen wohnte ich nicht mehr in der besagten Doppelhaushälfte im beschaulichen Westfalen sondern in einem vorwiegend von Rentnern bewohnten Mietshaus in Berlin-Wilmersdorf. Die akustischen Bedingungen dort erinnerten auch weiterhin an mein damaliges Zuhause.

Die Übungen führte ich also, ganz im Sinne meiner musikalischen Sozialisation, mit zwiespältigen Erwartungen aus. Eine richtete sich auf mögliche Proteste, die andere auf den Fortschritt meiner Bemühungen. Eine positive Bestätigung kam dann doch von der Seite, von der ich es eigentlich nicht erwartet hatte. Einer Neugier folgend, bei gezielter Nachfrage, erhielt ich zu meinem Erstaunen die Antwort: "Ach Sie sind das, der immer so schön spielt!" Irgendwie spielte ich seit dem nicht mehr nur für mich.

Bernd J. Gerdes

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Dezember 2008  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis