Das neue Leseerlebnis aus der edition Friedenauer Brücke

„Friedenau erzählt“ - 1914 bis 1933

Die Zeit ist auch in Friedenau nicht stehen geblieben, und wir können nachlesen, wie es in unserem Kiez weitergegangen ist. Die edition Friedenauer Brücke hat in den Archiven gestöbert und weitererzählen lassen, der erste Band „Friedenau erzählt - 1871 bis 1914“ hat den angekündigten Nachfolger erhalten: „Friedenau erzählt“ von 1914 bis 1933. Den Einband schmückt ein Bild vom Friedenauer Rathaus, 1916 fertiggestellt, 1917 offiziell eingeweiht.

Die Zeit von „nischt wie Jejend“ ist lange vorbei, die erste Generation ist erwachsen geworden, man feiert bereits „50 Jahre Friedenau“ und schaut zurück und fand alles besser früher. Der Himmel ist noch immer blau über Friedenau; aber der Ziegenbock tanzt nicht mehr „mit seiner Frau im Unterrock“, wie es in einer Verballhornung der „Friedenauhymne“ hieß. Aus der Villenkolonie war Stadt geworden (und auch die Schreiberin dieser Zeilen hatte inzwischen das Licht Friedenaus erblickt und spielt seitdem ihre kleine Rolle im Kiezgeschehen. - Das nur nebenbei.)

Der 1. Weltkrieg
Der erste Weltkrieg warf seine Schatten voraus, auch in Friedenau wurde mobil gemacht. Alles, was sich im großen Berlin, im ganzen Land abspielte, nahm ganz genau so im kleinen Friedenau seinen Lauf. Eine kleine Chronik von Friedenau aus dem Jahre 1914, dem Band vorangestellt, zeigt auf, wie seit der Mobilmachung im August die vaterländischen Gefühle sich Bahn brachen, Freiwillige sich meldeten, auch Abiturienten, von denen manche ein vorgezogenes Abitur machten, um noch so schnell wie möglich an die Front zu kommen. Geld für Kriegszwecke wurde gesammelt, Lazarette eingerichtet und in kurzer Zeit ein Netzwerk von Hilfsorganisationen aufgezogen. Als Kontrast werden diese Texte von eingestreuten Zitaten u.a. der Friedenauer Bürger und Pazifisten Georg Hermann und Kurt Tucholsky begleitet.

Wie es weiterging
Überhaupt nehmen der erste Weltkrieg, sein Elend und seine Folgen, Nachkriegszeit, Revolution, Kapp-Putsch und Generalstreik, das Aufkommen des Nationalsozialismus einen breiten Raum ein, wie es nicht anders sein kann, wenn man vom Leben in den Jahren 1914-1933 berichtet. Wie sollen wir die „alten Friedenauer“, ihr Leben sonst verstehen, wie nachvollziehen können, auf welchem Hintergrund, auf welchen Wegen sich die Katastrophe des Nationalsozialismus entwickeln konnte? Wir können verfolgen, wie sich auch bei uns nationalsozialistische und kommunistische Anhänger prügelten, wie die Meinungen in den Gemeindevertretungen hin- und herschwankten, wie sich im Schöneberg-Friedenauer-Lokal-Anzeiger das "braune" Gedankengut einschlich und breitmachte, bis schließlich auch vom Friedenauer Rathaus die Hakenkreuzfahne herabhing und bereits 1931 Dr. Goebbels im völlig überfüllten Rathaussaal frenetisch bejubelt wurde

„Normales Leben“
Natürlich gibt es auch in schweren Zeiten das sogenannte normale Leben, und auch darüber wird aus diesen Jahren ausführlich berichtet. Lebensgeschichten werden erzählt, kleine und größere Begebenheiten, die weitere Entwicklung Friedenaus skizziert. Die Friedenauer hat ihr Humor nicht verlassen. Und wir erfahren, wie die „neue Zeit“ nach dem Krieg auch in Friedenau ankam: Dada etablierte sich 1917 in unserem Bezirk (Hannah Höch hatte ihr Atelier in der Büsingstraße, Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Hans Arp gehörten zu ihrem Kreis). Wir können nachlesen, wie Friedenau nach wie vor auch ein Künstlerbezirk war.

Alles schon dagewesen
Die Anhänger der Devise "früher war alles besser" müssen sich allerdings belehren lassen, dass es bereits vor nun bald 100 Jahren in Friedenau Mord und Totschlag gab, dass über Kinderlärm und un-verschämte und randalierende Jugend gewettert, über Kindesmißhandlungen geklagt wurde. Es gab Drogendealer, Schwarzfahrer, Verkehrsunfälle; eine Straßenbahnfahrerin wurde angepöbelt, ja, es ist sogar versucht worden, einen Schaffner mit einem Lasso vom offenen Bus herunterzuholen - zum Glück vergeblich…

Wann waren sie denn bloß, die goldenen Zeiten?
Wir wissen es natürlich: es gab sie nie, und so kann eine Geschichte unseres Kiezes auch nur eine Geschichte des - wahren? - Lebens sein: jeder lebt sein Leben, bemüht sich redlich, versucht das Richtige zu tun, gerät auf Abwege oder nicht, und allen spielt es mit. Manche haben mehr Glück als andere, und alle sterben wir am Ende. Das ist in Friedenau so wie anderswo, und auch darüber berichtet der neue Band "Friedenau erzählt" aus den Jahren 1914 bis 1933. Wieder ein schönes, lesenswertes Buch mit vielen Originalaufnahmen, einem Abriß über die Herkunft Friedenauer Straßennamen und natürlich Personenregister, Literatur-, Abbildungs- und Quellenverzeichnis.
Sigrid Wiegand

Friedenau erzählt.
Geschichten aus einem Berliner Vorort 1914 bis 1933.
Eine Dokumentation von Hermann Ebling, unter Mitarbeit von Evelyn Weissberg. Lektorat Dr. Anne Meckel, Jonas Weissberg
edition Friedenauer Brücke, Berlin 2008
www.friedenauer-brücke.de

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Dezember 2008  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis