21 neue Dachgeschosswohnungen für die Lindenhof-Siedlung   von Marina Naujoks

Voll auf der Höhe im alten Geist !?

Verehrte Leser, komponieren Sie bitte ein Musikstück, das so klingt, als sei es von einem sehr dynamischen Komponisten, der einerseits seiner Zeit weit voraus war, andererseits vor über fünfzig Jahren verstarb. Ach ja, es soll seinem Frühwerk ähneln. Übertragen Sie die o. g. Vorgaben von der Musik auf das Bauen, und Sie können nachvollziehen, wie schwierig der Umgang mit denkmalgeschützter Substanz ist.

Die Geschichte der Siedlung:
Gleich nach dem Ersten Weltkrieg entstand die Lindenhof-Siedlung zwischen Eyth- und Arnulfstraße. Umrahmt vom Industriegebiet an der Bessemerstraße im Norden, der Bahntrasse im Westen und zwei Friedhöfen zu den übrigen Seiten liegt sie vielleicht etwas abseits Ihrer üblichen Wege, aber doch mittendrin im Bezirk.
Ein junger Stadtbaurat in Schöneberg (damals noch selbstständige Stadt) initiierte 1918 den Bau der Siedlung und zog das Projekt gegen alle Widerstände durch: Martin Wagner. Die "Gartenstadt" war das städtebauliche Leitbild. Arbeiter sollten nicht länger in ungesunden Verhältnissen leben, sondern Hausgärten erhalten, die eine Selbstversorgung ermöglichten. Die Idee der Genossenschaft war damals ganz modern: Der Siedlungsbewohner sollte in einer Gemeinschaft leben, in der für alle zentral gekocht und auch die Freizeit gemeinsam verbracht wurde. Wer (noch) keine Familie hatte, kam im Ledigenheim unter.

Durch die Beschränkung auf nur zwei Haustypen - Reihenhaus und Vierfamilienhaus - wurde kostengünstig gebaut. Langweilig wirkte die Siedlung trotzdem nicht: Martin Wagner erlaubte sich so manches Schmuckelement, das an asiatische Architektur erinnerte. Ja, die Lindenhof-Siedlung war Wegbereiter und Vorläufer anderer Zwanziger-Jahre-Sied-lungen in Berlin wie z. B. die Hufeisensiedlung in Britz oder "Onkel-Toms-Hütte" in Zehlendorf.

Das aktuelle Projekt:
Sparen wir uns die Auseinandersetzung mit der Nachkriegsbebauung in der Siedlung, die hauptsächlich unter der Prämisse "Wohnraumschaffen" entstand. Heute will man wieder an die alten Strukturen anknüpfen. Als der Vorstand der Genossenschaft beschloss, die vorhandenen Dächer zu Wohnungen auszubauen oder die Gebäude aufzustocken, waren sich sicherlich alle Beteiligten im Klaren, dass Martin Wagners Leitgedanken nachempfunden werden sollten. Doch dass der Planungsprozess und die Abstimmung mit der Denkmalschutzbehörde 15 (!) Jahre dauerte, lässt ahnen, wie schwierig die Diskussion über die richtige Interpretation des Erbes war.

Jetzt ist die Errichtung von 21 Dachgeschosswohnungen in der Ausführungsphase. Entlang der Suttnerstraße entstehen sie in mehreren Bauabschnitten. Vorhandene Dachstühle konnten dabei nicht genutzt werden, die Dachgeschosse werden komplett neu hergestellt. Diese Situation ergibt sich oft, wenn alte Sparren ein gewisses Alter "auf dem Buckel" haben: Die alte Konstruktion ist nie für den neuen Zweck statisch ausgelegt worden und evtl. von Schädlingen befallen. Der schöne Nostalgiegedanke "Erhalten wir das Alte" ist mit Vorsicht zu genießen, wenn für die nächsten hundert Jahre investiert werden soll.

Daher hätte man hier - statt eines konventionellen Dachgeschosses - an eine ganz andere Art der Aufstockung denken können. Auf diesbezügliche Fragen an die Verantwortlichen bekam ich keine konkrete Antwort. Also muss ich zwischen den Zeilen lesen: Die Lebensläufe des Vorstands-vorsitzenden der gemeinnützigen Genossenschaft, Norbert Reinelt, und des Architekten, Carlos Zwick, sind der Pressemappe beigefügt. Sie lassen ahnen, dass beide mit dem gleichen Feuer an die Aufgabe herangegangen sind, wie es Martin Wagner getan hätte. Vielleicht, ach, bestimmt haben sie einen Entwurf in der Schublade, der die Lindenhof-Siedlung zu einer neuen Pilgerstätte des Architektur-Nachwuchses gemacht hätte.

Doch fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. An dieser Stelle soll nicht der Behörde der "Schwarze Peter" zugeschoben werden, zahlreiche interne Umstrukturierungen fanden in dieser Zeit statt, so dass auch die Ansprechpartner und genehmigenden Gremien wechselten. Aber innovativer Geist wird so ausgebremst. Das jetzt umgesetzte Ergebnis, plastisch dargestellt in einem "Wohnungssimulator" (früher sagte man Musterwohnung) ist ein solider Kompromiss, der mit vom zukünftigen Nutzer angenommen werden wird. Zwar haben die Dachgeschosswohnungen keinen Balkon, geschweige denn eine Terrasse - die Denkmalschutzbehörde erlaubte es nicht. Die Genossenschaftsverwaltung tröstet sich damit, dass genügend Grünflächen vorhanden sind und der genossenschaftliche Gedanke durch Gemeinschaftseinrichtungen besser am Leben erhalten wird - , sie weisen aber ausgefeilte Sichtachsen ins Grüne innerhalb der Wohnung auf.

Dass die neuen Wohnungen - im Vergleich zum übrigen Markt - erschwinglich sein werden, versteht sich von selbst: Im Rahmen der Genossenschaft gelingt die Balance zwischen hohen Investitionskosten - sechs Millionen Euro - und möglichst geringen Nutzungsentgelten - hier: 6,50 Euro kalt pro Quadratmeter -. Zunächst werden die Wohnungen den eigenen Genossenschaftsmitgliedern angeboten, aber auch externe Bewerber sind erwünscht. Also auf zu einem Spaziergang durch die Siedlung, die schon wegen ihrer Einbettung in eine parkähnliche Anlage - sogar ein kleiner Teich aus der Eiszeit, auch Söller genannt, wurde integriert - immer wieder einen Besuch wert ist. Und das lange leerstehende Gartenlokal ist auch frisch verpachtet worden. Genießen Sie den Sommer!

Marina Naujoks

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Juli 2008  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis