Eine Friedenauer Kindheit im Krieg

Regina - im Westen geboren und doch Ost-Frau

Ich lernte Regina in einem Theaterprojekt kennen. Sie ist das, was man früher eine "richtige Berlinersche" nannte, und sie macht kein Hehl daraus, dass ihre Heimat Ostberlin ist. Doch dann stellte sich heraus, dass wir beide im selben Jahr im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg zur Welt gekommen waren. Nun standen wir uns als Ost- und Westfrau gegenüber und waren uns fremd, trotz des gleichen Heimatbezirkes, in dem wir bis zur Pubertät gemeinsam aufgewachsen waren, ohne uns je zu begegnen. Sie war die erste, die ich bat, mir aus ihrem Leben zu erzählen.

Regina war früh mit dem Kommunismus in Berührung gekommen. Ihr Vater war als Jugendlicher über den kommunistischen Jugendverband in die KPD eingetreten und hatte dort auch aktiv mitgearbeitet, kam auf die sog. "schwarze Liste" und wurde schon in den frühen Dreißigern arbeitslos. Die Mutter, Schneiderin, hielt die Familie mit Näharbeiten über Wasser. Ihre Kindheit war von Geldmangel und illegaler politischer Arbeit des Vaters bestimmt. Sie bezeichnet sie aber als geborgen und glücklich, schildert ein harmonisches Familienleben mit den Eltern und den auch in Friedenau wohnenden Verwandten. Alles in allem lebte sie das Leben eines Berliner Mädchens der frühen dreißiger Jahre mit Spielkameraden aus dem Wohnhaus, die Ärger mit dem Hauswirt bekamen, wenn sie Krach machten, die auf der Straße berlinerten, was wiederum die Eltern nicht hören durften, das seinen Vater vom S-Bahnhof Innsbrucker Platz abholte, wenn er von der Arbeit kam, das im Sommer beim Onkel im Schrebergarten im Südgelände war und im Winter zum Rodeln in den Stadtpark Schöneberg ging.

Erste Bombenangriffe
"Als der Krieg anfing, war ich 9 Jahre alt. Wir mussten immer runter in den Luftschutzkeller, das fing so '40 an. Bei allen Familienfeiern sind meine Eltern mit mir grundsätzlich um sechse weg, damit ich um sieben im Bett bin. Und wenn dann die Sirene ging und wir uns anziehen und in den Keller mussten - das war doch mal was, dass ich mal nachts raus durfte und aufbleiben konnte! Dann haben wir uns eine Ecke im Keller ausgesucht, die Jungs und ich, und haben uns Gruselgeschichten erzählt. Das war im Anfang, die ersten Angriffe waren ja noch nicht so schlimm, dass man große Angst hatte. Am 7. Oktober '40, ein Tag vor meinem 10. Geburtstag, gab's einen größeren Luftangriff, das ging dann auch über Mitternacht hinaus, und da haben meine Eltern mir die Scheinwerfer und die ‚Christbäume' am Himmel gezeigt, um mir die Angst zu nehmen und haben gesagt: sieh mal, zu deinem Geburtstag ein Feuerwerk! Dann haben sie mir gleich zum Geburtstag gratuliert, der Geburtstagstisch war mit'm Laken zugedeckt, damit ich das vorher nicht sehe, wenn wir runter mussten. Das war mein 10. Geburtstag, das werde ich nicht vergessen."

Regina wird "Jungmädchen"
1940 wurde sie "Jungmädchen", was von ihren Eltern geduldet wurde, um nicht auffällig zu werden. "Du weißt doch, wie das war, um mich keiner Gefahr auszusetzen. Am Anfang, die Heimabende, die wir hatten, das fand ich nicht schlecht. Aber dann das ganze Antreten und die dauernden Märsche und Geländespiele, das hat mir nicht mehr gefallen. Beim Geländespiel habe ich mir immer gleich mein Armband abgerissen und bin in ‚Gefangenschaft' gegangen, da haben dann alle mit mir gemeckert. Da hab' ich dann zu meinen Eltern gesagt, ick will da nich mehr hingeh'n, dann hab' ich auch mal Entschuldigungen von ihnen gekriegt."
Judensterne
"Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir irgendwann einmal, wahrscheinlich bei uns die Rheinstraße langgegangen sind, wo sehr viele Fensterscheiben und Schaufenster kaputt waren. Und Nachbarn von uns, die hatten eine Tochter, die kam oft zu uns rüber und wir haben gespielt. Und einmal haben sie geklingelt und haben sich verabschiedet. Ich weiß jetzt nicht, ob sie abtransportiert wurden oder ob sie noch rausgekommen sind, das war am Anfang, sie hatten wohl noch keine Judensterne getragen. Aber später, auf der Straße, habe ich schon Judensterne gesehen. Aber darüber wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen."

Evakuiert in der Fremde
"Und dann ging das ja weiter mit den Luftangriffen, gerade auch bei uns in Friedenau. Ich hatte '43 eine Rauchvergiftung, als es bei uns in der Nähe eingeschlagen hatte und kam dann, um aus Berlin raus zu sein, zu einem Großonkel nach Frankfurt an der Oder. Die haben auch wirklich alles nett gemacht, aber irgendwie konnte ich mich da nicht reinfinden. Das war 'ne schlimme Zeit, ich hab' immer den roten Feuerschein gesehen über Berlin. Es gab zwar so kleine Postkarten, so 'ne Vordrucke an die Angehörigen, dass man noch lebt, die dann nach dem Luftangriff bloß in den Postkasten gesteckt wurden. Aber oftmals sind die unterwegs schon wieder verbrannt, so dass ich dann längere Zeit keine Nachricht hatte von meinen Eltern. Telefon hatte man damals ja noch nicht soviel, und da hab' ich dann sehr viel geweint."

Der Krieg wird größer
"Als der Überfall auf die Sowjetunion war, hat Mutti in der Küche gesessen und bitterlich geweint, und als ich sie fragte, was is'n los, sagte sie, Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. So, wie meine Eltern zur Sowjetunion standen, ist ihnen das sicherlich persönlich noch mehr nahegegangen. Ich hab' das so angehört, aber dann bin ich doch runtergegangen spielen, na ja, na gut, ich war ja ein Kind."

Kriegsende in Sachsen
"'44 hieß es auf einmal, dass Papas Betriebsteil nach Sachsen verlagert wird, weil das kriegswichtig war. Wir kamen in die Gegend von Meißen und wohnten dort in Untermiete, und ein halbes Jahr später war dann ein Behelfsheim für uns fertig, das bestand aus einem Wohnraum, Küche, kleine Toilette, Kaltwasser. Die einzige Heizmöglichkeit war der Herd in der Küche, morgens war im Winter oft die Bettdecke gefroren. Die Ansässigen dort hatten alle ihre Siedlungshäuschen, sie hatten ihre Kaninchen, ihre Spargelplantagen, ihre Obstplantagen und alles - Luftangriffe kannten die gar nicht!
Mutti war dienstverpflichtet bei Askania in Friedenau und wurde nicht freigegeben, drei Tage hat sie in Berlin gearbeitet und am Wochenende ist sie zu uns gekommen. Montagabend ist sie wieder nach Berlin gefahren, wir haben sie zum Bahnhof gebracht, immer mit der Angst: kommt sie überhaupt an in Berlin und dann auch wieder zurück? Sie wurde erst im Sommer '44 freigestellt. Und als wir dann endlich alle zusammen waren, wurde Papa eingezogen, und wir waren wieder auseinandergerissen! Am Kriegsende kam er nach Königsbrück in ein großes Kriegsgefangenenlager, mit seinen Magengeschwüren hat er das nicht überlebt."

Sigrid Wiegand, aus: "Wir Mädchen aus den Dreißigern", Interviews mit Frauen aus Ost und West.

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Oktober 2008  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis