Neues Buch aus dem Frieling-Verlag
Tr...Mauerarbeit
Seit (fast) 20 Jahren weg, aber immer noch präsent in unseren Erinnerungen: Die Berliner Mauer!

Zu diesem Thema erscheinen z. Zt. Bücher „noch und nöcher“. Eines möchte ich Ihnen an dieser Stelle vorstellen, in der die Ostberlinerin Ingrid Wermke - Jahrgang 1936 - ihren Lebens- und Leidensweg im Schatten der Mauer beschreibt:
Leben mit der Mauer, Erinnerungen einer Berlinerin
von Ingrid Taegner

Zunächst fühlt sich der Leser sofort vertraut mit ihren Schilderungen, denn ähnliche Beschreibungen und Begründungen für damaliges Handeln hat man zigfach in der eigenen (Berliner) Familie gehört.

Und ähnlich wie bei anderen Zeitzeugen wird im Nachhinein ein widersprüchliches Szenario nur wiedergegeben, aber nicht aufgearbeitet. Beispiel: „1960 war für mich die Welt noch in Ordnung“ lautet der Anfang eines Kapitels. Ihr Vater trug sich zwar zu diesem Zeitpunkt mit Fluchtgedanken, weil ihm die Existenzgrundlage in der DDR entzogen wurde. Dafür geriet  er auch prompt in Untersuchungshaft. Die Autorin selbst hat sich im selben Jahr in einem vermeintlich privaten Kreis zu politischen Äußerungen hinreißen lassen, die von der Stasi aufgezeichnet wurden und für die sie zwei Jahre später - nach dem Mauerbau - belangt wurde.

Ja, 1960 war sie aber noch die nach außen hin strahlende Junglehrerin, die ihre mit Antiquitäten ausgestattete Wohnung niemals aufgeben wollte, 1961 die junge Mutter, die den Kinderwagen so weit bis zur Demarkationslinie vorschob, dass sie sich mit ihrem Vater auf der Westseite unterhalten konnte, aber nicht an Flucht gedacht hätte. Das Doppelleben des DDR-Bürgers begann also schon vor dem Mauerbau ... Die ganze Härte des Regimes erfuhr sie dann 1962, als es keine Alter-native mehr gab. 

Warum man dieses Buch trotzdem lesen sollte? Für mich tritt deutlich ein Charakter zu tage, der einerseits Verdrängung als Technik zum Überleben im Arbeiter- und Bauernstaat benutzte, andererseits die eigenen Werte nie aufgab. Ingrid Wermke, geschiedene Müller, verheiratete Taegner stammt aus einem sehr gutbürgerlichen Elternhaus. Für sie war von Anfang an kein Platz in der sozialistischen Gesellschaft, denn ihre Herkunft wurde schon in der Schule, dann später im Studium mit einem „I“ (= Intelligenzler, Gesellschaftsschicht der Eltern) gebrandmarkt.

Aber ähnlich wie Menschen im Dritten Reich, die glaubten, sie könnten sich gänzlich aus der Politik heraushalten, hatte sie sich in ihrem Alltag eingerichtet. Dass Staatsdienern überall auf der Welt Loyalität oder sogar Gehorsam gegenüber den Herrschenden - erst recht in einer Diktatur - abverlangt wird, hatte sie vielleicht zu spät erkannt? Ingrid Taegner ist eine Repräsentantin der untergegangenen DDR, wie es sie wahrscheinlich viel öfter gab als den regimetreuen Parteisoldaten. Sie stand nicht hinter den staatstragenden Ideen, gehörte aber zu den Leistungsträgern und trug damit zum Erhalt der DDR bei, trotz gleichzeitigen Leidens. Ob sie sich im heutigen Deutschland wohlfühlt?

Ingrid Taegner
Leben mit der Mauer
Frieling-Verlag Berlin
ISBN 978-3-8280-2665-0

Marina Naujoks

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April 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis