Höflichkeitsterror ohne Freundlichkeit
Rauh aber herzlich

Ich gehöre zu den eingefleischten Großstadtpflanzen, die die sog. Anonymität der Großstadt schätzen und hoch in Ehren halten. Nicht jedermann grüßen zu müssen, der mir über den Weg läuft, gehört für mich zu den Annehmlichkeiten, ja, ich empfinde es geradezu als Luxus.

Abgesehen davon, dass ich schlecht sehe, bin ich auch oft so in Gedanken versunken, dass ich meine Umgebung nicht wahrnehme. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie oft ich schon als hochnäsig bezeichnet worden bin.
 
Als ich in der Kindheit zum erstenmal auf dem Land war, hat es mich total irritiert, dass ich als unhöflich verschrien war, weil ich nicht „Guten Tag“ sagte - ich kannte doch die Leute gar nicht, selbst wenn ich ihnen dreimal am Tag begegnete! Ich will hier nicht den Spleen der britischen Upperclass hochloben, die Menschen, die ihr nicht vorgestellt worden sind, gar nicht wahrnimmt; aber irgendwie ist da auch was dran, finde ich. Auch wir gewöhnlichen Sterblichen grüßen in der Regel nur Bekannte, Nachbarn, Kollegen, Freunde sowieso und Leute, die wir aus verschiedenen Gründen näher kennen. Anders kann man in einer so bevölkerten Stadt wie Berlin gar nicht die nötige Distanz halten.
 
In den sechziger Jahren wurden die ersten Supermärkte eröffnet, und das war für mich eine reine Wohltat: man ging hinein, suchte, was man brauchte, zahlte an der Sammelkasse und ging wieder. Der einen oder anderen Verkäuferin, die man öfter traf, nickte man freundlich zu, und das genügte. In den Geschäften konnte man ungestört von „was darf's denn sein?“ in den Regalen stöbern, ohne sich über das Wetter unterhalten zu müssen, und niemand war beleidigt, wenn man ihm keinen schönen Tag wünschte. Heutzutage muss man auch in fremden Läden, in denen man niemanden kennt, a l l e grüßen, will man nicht schief angesehen werden: jede Verkäuferin einzeln, Regaleinräumer, Putzkräfte, Kassierer/innen - ohne vier bis fünfmal „Hallo - schönen Tag auch“ kommt man nicht davon. Neuerdings begrüßt schon der Motz-Verkäufer (oder ist es der vom Straßenfeger?) vor dem U-Bahn-Ausgang Walther-Schreiber-Platz jeden, der vorbeikommt. Da hat er ganz schön zu tun: die kommen von rechts und links und aus dem Bioladen, ganz zu schweigen von denen auf der U-Bahntreppe. Wie ein Kreisel dreht er sich, um ja keinen zu verpassen, aber keiner entkommt ihm. Ob das das Geschäft belebt?

Neulich suchte ich in einem mir fremden Supermarkt nach den Nudeln (die ohne Ei mit Hühnerkacke) und fragte höflich und manierlich eine Verkäuferin danach. Ach hätte sie doch nur den Arm ausgestreckt und „drittes Regal links“ gesagt, ich wäre glücklich gewesen! Stattdessen wurde ich streng gemustert, mit einem betonten „Guten Tag!“ gemaßregelt (mit dem Unterton „kannst wohl nicht grüßen, was?“) und anschließend mit einer Erklärung bedacht. Auf diesen Höflichkeitsterror ohne Freundlichkeit kann ich gut und gerne verzichten. Da lobe ich mir uns Berliner: rauh aber herzlich - man weiß immer genau, woran man ist!

Sigrid Wiegand

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Dezember 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis