Frauen in der Opferrolle


Anonyma - eine Frau in Berlin.


Das Tagebuch der „Anonyma“ - der Frau, die 1945 dreißig Jahre alt war und die ersten drei Monate nach dem Einmarsch der Russen in Berlin schildert, ist nun, fünfzig Jahre nach seiner ersten deutschen Veröffentlichung, verfilmt worden. Ihren Namen wollte die Autorin nicht preisgeben. Nachdem das Tagebuch 1954 ins Englische übersetzt und zuerst in New York herausgegeben worden war, später in mehreren europäischen Ländern eine verständnisvolle Aufnahme fand, stimmte die Verfasserin 1958 auch einer deutschsprachigen Ausgabe zu, die eine Flut von unglaublichen Anfeindungen nach sich zog. Es wurden Spekulationen über die Authentizität des Textes angestellt, dem Herausgeber, Hans Magnus Enzensberger, wurde Unredlichkeit unterstellt, und erst als sich der Biografie-Spezialist Walter Kempowski für die Echtheit des Tagebuches aussprach, wurde es anerkannt.

Warum all diese Abwehr?
Warum sollte nicht sein, was nicht sein darf: daß eine Frau trotz der andauernden Vergewaltigungen und Misshandlungen nicht zusammenbricht, nicht schreiend Gott und die Welt anklagt, sondern ihr Schicksal auf sich nimmt, sich wehrt und Strategien zur Verbesserung ihrer Situation entwickelt, sprich: sich einen hochrangigen russischen Offizier als „Liebhaber“ sucht, der ihr die vergewaltigenden Mannschaften vom Leibe hält und sie (und die Hausgemeinschaft) mit Nahrungsmitteln versorgt. Selbst der der „Anonyma“ bekannte und wohlwollende Schriftsteller Kurt W. Marek konnte sich in seinem Nachwort zur amerikanischen Ausgabe von 1954 den Gedanken nicht verkneifen, „ob die Autorin sich in der einen oder anderen Situation hätte anders verhalten können“ und kam ohne Bemühen von literarischen Bekenntnissen von Rousseau bis E.A. Poe nicht aus. Man wollte es auch nicht für möglich halten, daß eine derart geschändete Frau ihre Erlebnisse so nüchtern-betrachtend („kalt“!) niederschreiben kann, sich gar Gedanken über Schicksal und Situation der Angreifer macht, wo Anklage und Schuldzuweisungen erwartet werden. Nur eine starke Frau konnte das, die ihre Verletzungen und Beschädigungen auf diese Weise bewältigte. Ist es „ehrenvoller“, sich aus dem Fenster zu stürzen, als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?

Die Inszenierung der Wirklichkeit
Zeigt das Tagebuch der „Anonyma“ einen Teil der Wirklichkeit im Berlin von 1945, so wird diese Wirklichkeit im Film inszeniert. Die bloße Realität genügt nicht, die Dinge dürfen nicht einfach geschehen, sie müssen gefällig präsentiert werden, auch im Negativen. Da lagern die russischen Soldaten in den Straßen wie Opernchöre bei Verdi , Soldatinnen müssen sich als eifersüchtige Frauen entpuppen, und natürlich gibt es mit dem zum Schutz herbeigerufenen Major eine Liebesgeschichte, während im Tagebuch Gefühle nur angedeutet werden. Neue Figuren werden eingeführt mit romanträchtigen Schicksalen - die Drehbuchautoren müssen auch etwas zu tun haben. Und unterscheidet die Tagebuchschreiberin genau zwischen dem, was in ihrem Haus geschieht und den Situationen, die sie anderswo vorfindet, so suggeriert der Film flächendeckende Gräuel in der ganzen Stadt: „Ganz Berlin ist ein Bordell!“ ruft ein Film-Russe begeistert abfällig aus.
Anscheinend wird die Realität für zu uninteressant gehalten, um das Publikum zu unterhalten, dem man offenbar keine Empathie und Kritikfähigkeit zutraut. Da-bei halten sich die Filmemacher teilweise eng an die literarische Vorlage ohne die Stärke und Ausstrahlung des Tagebuchs zu erreichen. Die Einzelheiten mögen stimmen, aber bekanntlich ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, und genau dieser Mehr-wert fehlt hier. „Verschlimmbessern“ nannten wir das früher in der Schule.

Trotz dieser eklatanten Mängel kann man den Film empfehlen - herausragend Nina Hoß als „Anonyma“ und Irm Herrmann als die „Witwe“ - man darf ihn nur nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.

Sigrid Wiegand

Anonyma - Eine Frau in Berlin.
Tagebuch-Aufzeichnungen vom
20. April bis 22. Juni 1945
btb-Verlag, April 2005
ISBN 978-3-442-73216-6

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