Theater Strahl


- AKTE R -

Ein deutsch-deutscher (Beziehungs)krimi der besonderen Art

Begeistert war ich nicht, als ich bereits vor der Vorstellung feststellen musste, dass außer drei LehrerInnen und mir ausschließlich Jugendliche im besten Pubertätsalter den Zuschauerraum füllten. Aber meine Befürchtung, dass die „Kiddis“ vielleicht kein Interesse an dem Stück haben könnten und deshalb eventuell auch mein Theatererlebnis schmälern würden, hat sich dann überhaupt nicht bestätigt. Hochkonzentriert blieb die spannungsgeladene Verbindung zwischen den Schauspielern und den Zuschauern während des gesamten Stückes erhalten und das bei einer Geschichte, die vor mehr als zwanzig Jahren und in einem Staat spielt, der allen Jugendlichen nur vom Hörensagen bekannt und dessen Lebenswirklichkeit von ihren heutigen Problemen meilenweit entfernt ist. Worum geht es in dem Stück, das in der Zeit von 1985 bis 1999 in Ostberlin, Westberlin und Budapest spielt?

Es geht um die Geschichte des anfangs siebzehnjährigen Marco aus Berlin Ost (Hauptstadt der DDR), der  sich im Urlaub in Budapest in einen Politiker aus Berlin West verliebt.

Zurück in Deutschland, besucht der Westberliner regelmäßig seinen Ostberliner Freund. Zwei Jahre später, nachdem sich Marco geweigert hat für die Stasi als IM zu arbeiten und seinen Freund auszuspionieren, landet Marco nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Stasiknast Hohenschönhausen und wird dort ohne Verhandlung drei Monate in Isolationshaft festgehalten, durch Vernehmer der Staatssicherheit willkürlich drangsaliert und fast verrückt gemacht. 1988 wird er vom Westen freigekauft und versucht erst einmal zu vergessen, lebt ein normales bürgerliches Leben in Westberlin und schweigt über die alptraumhafte Vergangenheit. Bis 1999 geht es ihm oberflächlich gut.

Dann trifft er einen seiner damaligen Hauptvernehmer aus dem Stasiknast zufällig im KaDeWe wieder. Marco bricht zusammen und muss sich für Monate in psychiatrische Behandlung begeben. Eine posttraumatische Belastungsstörung wird diagnostiziert und Marco fängt an, seine Erlebnisse aufzuarbeiten. Erlebnisse, die nicht nur an diesem Tag das Publikum berühren (bisher waren die meisten Vorstellungen ausverkauft).
In dem sich anschließenden Zeitzeugengespräch stellt sich der „echte“ Marco namens Mario Röllig den Fragen der Zuschauer, erzählt über die Auswirkungen der Stasihaft, unter denen er bis heute noch leidet.

Wenn man Geschichte als Ansammlung von Einzelschicksalen betrachtet, dann kann sie sich kaum besser vermitteln, als durch dieses Gespräch. Es wird deutlich, was Willkür und Ohnmacht bewirken können. Wie schwer es ist, unter der Herrschaft einer Diktatur sich selbst treu zu bleiben und die eigene Würde zu bewahren.

Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution und nachdem die Ostalgiewelle durchs Land geflutet ist, erinnern unsere freien Medien zwar immer wieder lautstark an den Wert der Presse- und Meinungsfreiheit, aber lassen sich dann doch von ehemaligen SED-Mitgliedern diktieren, wer außer ihnen noch zu Diskussionsrunden eingeladen werden darf.  In dieser Gemengelage schenkt uns dieses Theaterstück noch mal den ganz privaten Blick auf ein Staatssystem, über das heute immer öfter gesagt wird: „Aber es war ja nicht alles schlecht und einiges hätten wir doch übernehmen können“.

Sollte vor dem Übernehmen nicht vielleicht doch die Aufarbeitung liegen ?

So schnell wie wir die Mauer in Berlin beseitigt haben und uns deren „Wegsein“ erst auffiel, als immer mehr ausländische Touristen sie verwundert vermissten, so schnell kann sich Erkennen und Lernen wohl nicht vollziehen.

Zuerst war der Freudentaumel, der nicht mit so viel Negativem belastet werden sollte. Dann mussten die Ärmel für den Aufbau Ost hochgekrempelt werden und heute ? Heute ist es doch schon so lange her.

So lange, dass die nachgewachsene Generation nicht mehr weiß, wo Ost und wo West eigentlich war, ganz zu schweigen davon, dass der eine deutsche Staat eine kriminelle Diktatur war, in der es keine Rechtssicherheit gab und in dem ein Verstoß gegen die Parteidoktrin nicht selten im Stasi- oder einem anderen Knast endete.

Im Gegensatz zu den vielen z. B. im Fernsehen gezeigten, weichgespülten Ost-West Geschichten, kann man in diesem Stück sehr klar und eindringlich die Politisierung eines anfangs Unpolitischen erleben und die „AKTE R“ schafft es, durch die Präsenz der Schauspieler und schnelle, rasante Sequenzen, die heutige Jugend für das Leben in der zweiten deutschen Diktatur zu interessieren.

Das anschließende Zeitzeugengespräch verstärkt diese Wirkung des Theaterstückes noch und darüber hinaus kann man auch noch den Wert unserer Demokratie diskutieren. Einer Demokratie, um die es sich zu kämpfen lohnt, auch und gerade, weil sie trotz aller Mängel bisher historisch alternativlos geblieben ist.

Die Aufführungsorte und (leider nicht regelmäßigen) Spieltermine für das Theaterstück finden Sie jeweils unter www.theater-strahl.de und www.stiftung-hsh.de

Veronika Schneider

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Juli-August 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis