Kindheitserinnerungen von Veronika Schneider


Berliner Leben kurz nach dem Mauerbau 1961


Ich war 9 Jahre alt als die Grenze zwischen Ost- und Westberlin am 13. August 1961 dicht gemacht wurde und mich für lange Jahre von dem mir liebsten Teil meiner Familie, meiner Großmutter, getrennt hat.
Da meine Eltern im Ostteil und meine Großeltern im Westteil der Stadt wohnten, beendete der Bau der Mauer die Zeit meines bisherigen Hin- und Herpendelns zwischen diesen beiden Lebenswelten.

Nach dem 13. August dauerte es nur wenige Tage, bis die von Grenzposten bewachten Stacheldrahtabsperrungen, die plötzlich ohne Vorankündigung Ost- von Westberlin trennten, durch eine Mauer, die anfangs noch handgemauert und nicht so hoch war, ersetzt wurden.

In dieser ersten Zeit ist meine Mutter mit mir fast jeden Sonntag zur Mauer an der Bernauer-, Ecke Ruppiner Straße gegangen, um wenigstens den Sichtkontakt zur Oma halten zu können. Diese Treffen ähnelten sich anfangs immer.

An der Mauer, auf meiner Seite, standen immer DDR-Grenzsoldaten mit Gewehren über der Schulter, vor denen ich Angst hatte und die uns wegscheuchten, wenn wir zu nah an die Mauer rankamen. Auf der anderen, der Westberliner Seite stand meine Großmutter, ganz nah an der Mauer und wir versuchten uns durch Zurufe zu verständigen.

Aber anfassen oder umarmen konnte wir uns nicht mehr und die „Besuche“ endeten meistens traurig, mit Weinen auf beiden Seiten.
Trotzdem wollte ich immer wieder hin, weil ich meine Oma sehr vermisste.

Nach ein paar Wochen hatte sich die Situation dann verändert, als wir wieder an „unserer“ Straße meine Großmutter treffen wollten. Jetzt waren dort schon etliche Meter vor der Mauer Absperrungen aufgebaut und die Grenzsoldaten blickten finster und brüllten alle an, die wie wir ihre Verwandten auf der anderen Seite sehen wollten. Sie versuchten die Leute zurückzudrängen und ich konnte meine Großmutter nicht mehr sehen. Durch die Absperrungen hatten sich die Entfernungen so vergrößert, dass eine Verständigung mit den Verwandten auf der Westseite auch durch lauteres Rufen nicht mehr möglich war. Die Situation wurde immer unübersichtlicher.
Langsam bekam ich Angst und meine Hand tat mir weh, weil meine Mutter sie immer fester drückte.
Die Grenzer wurden immer wütender und schubsten die Leute auf unserer Seite mit ihren Gewehren und ich wusste nicht mehr was ich machen sollte, weil die Situation immer unübersichtlicher wurde. Manche Leute stürzten in dem Gedränge zu Boden und meine Angst wurde noch größer.

Und plötzlich, mitten aus dem Tumult heraus, sah ich eine dicke Rauchwolke auf uns zukommen. Meine Mutter riss an meinem Arm und ich hörte sie schreien: „Lauf, Veronika, lauf so schnell du kannst!“
Alle rannten und ich rannte auch und plötzlich, als die Rauchwolke uns eingeholt hatte, bekam ich kaum noch Luft und meine Augen brannten und als ich dann vor Rauch und Tränen auch nichts mehr sehen konnte, bekam ich panische Angst und war fast sicher, dass wir entweder ersticken oder von den Grenzposten erschossen werden würden.
Aber meine Mutter riss mich immer weiter mit sich fort, fort von den Tumulten, fort von dem beißenden Rauch und fort von den schreienden und stolpernden Menschen. Wir schafften es bis zu einem fremden Auto, wo der Fahrer die Türen aufriss und meiner Mutter und mir zurief: „Los, los, rein !“ Wir sprangen ohne nachzudenken in das fremde Auto und der Fahrer raste mit uns davon.

Ein paar Straßen weiter hielt er an, wir stiegen aus und sind dann wie betäubt nach Hause gegangen. Ich hab den ganzen Weg gezittert und mich an meiner Mutter festgeklammert.
Unseren Retter haben wir nie wieder gesehen.

Nach diesem Sonntag gingen wir nur noch selten und wenn, dann an einer anderen Stelle zur Mauer.
Auf der Westseite wurde dann ein Aussichtsturm gebaut und bei den vielen Menschen, die sich dort in so weiter Entfernung drängten, konnte ich auch meine Großmutter nicht mehr erkennen.
Winken durfte ich nicht mehr, das hatte meine Mutter mir verboten. Ich sollte jetzt immer so tun, als wenn wir nur zufällig in dieser Straße spazieren gehen würden.

Langsam gewöhnte ich mich an die Trennung von meinen Großeltern und nach ein paar Jahren habe ich dann sogar geglaubt, was mir von meinen Lehrern in der Schule erzählt wurde. Die erklärten uns nämlich, dass die DDR-Regierung diese Mauer zu unserem Schutz hatte bauen müssen, um uns vor den Spionen und Kapitalisten im Westen beschützen zu können.

Veronika Schneider

.
Juli-August 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis