Zukunftsvisionen
"Shared Space"
oder die Sehnsucht nach der menschlichen Vernunft

Kennen Sie schon den neuesten Trend auf unseren Straßen ?
Nein, das sind nicht mehr die verkehrsberuhigten Bereiche oder Fußgängerzonen, in denen die Autofahrer in ihre Schranken verwiesen werden oder die Fußgänger sich wieder etwas sicheren, städtischen Lebensraum und damit auch mehr Lebensqualität zurückerobern können. Nein, der letzte Schrei im öffentlichen Verkehrsraum heißt jetzt Shared Space - gemeinsam genutzter Raum.

Das von dem Niederländer Hans Mondermann entwickelte Verkehrskonzept setzt auf Kreuzungsbereiche, an denen auf Ampelanlagen und Verkehrsschilder verzichtet wird, dafür soll aber die Nutzung des Straßenlandes von Auto-, Motorrad-, Fahrradfahrern und Fußgängern gleichberechtigt in rücksichtsvollem Miteinander stattfinden.

Zustande kommen soll dieser paradiesische Zustand der gegenseitigen Rücksichtnahme und Vernunft durch die Aufnahme von Blickkontakt. Mit Hilfe dieses Blickkontaktes soll sich jeweils geeinigt werden, wer wann gehen oder fahren kann.
Es soll sogar schon einige dieser "Entspannungsinseln" geben, die bisher allerdings immer im ländlichen oder kleinstädtischen Raum angesiedelt wurden und dort angeblich auch kein erhöhtes Unfallaufkommen zur Folge hatten.
Aber wie mir zu Ohren gekommen ist, plant unser Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg im Bereich der Belziger Straße nun auch für uns so ein herrliches und vor allem kommunikatives Entspannungsfeld.

Zwar hat der Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen bereits ein negatives Votum zu Shared-Space-Konzepten abgegeben, und dieses Votum wurde auch durch unsere Bezirksbehindertenbeauftragte übermittelt, aber wer Verkehrsplaner kennt, wird nicht einen Moment daran zweifeln, dass auch in Schöneberg hart daran gearbeitet wird, auch uns von der Moderne kosten zu lassen. Oder sollte ich mich irren ??

Werden wir in unserem Bezirk vielleicht doch auf die Stimmen von sehbehinderten und blinden Fußgängern hören, die ja leider nicht zur Aufnahme von Blickkontakt in der Lage sind. Blinde orientieren sich nämlich beim Überqueren von Kreuzungsbereichen an einem ausgeklügelten Leit- und Orientierungssystem, das in einem jahrelangen Modellversuch in enger Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden entwickelt wurde und heute im Berliner Straßenland ziemlich verbreitet ist. Das beginnt damit, dass der Ampelmast ein Tackergeräusch aussendet, dass blinde und sehbehinderte Menschen den Übergang überhaupt finden lässt.  Zeitgleich mit der Dauer der Grünphase sendet die Verkehrsampel dann einen elektronischen Piepton aus und gibt damit das Zeichen für ein gefahrloses Hinübergehen. Und das endet damit, dass die Gefahr des Überlaufens von abgesenkten Bordsteinkanten durch die weißen Rillenplatten eingedämmt wird, die besonders die Menschen, die mit dem weißen Stock unterwegs sind, zur erhöhten Aufmerksamkeit mahnen  und deren Verlauf der Rillen die Richtung angeben, die beim Überqueren eingehalten werden muss.

Aber auch abgesehen von den Interessen unserer blinden, sehbehinderten und älteren Mitmenschen habe ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich mir vorstelle, wie in Zeiten der stetig abnehmenden Rücksichtnahme und des zunehmenden Verkehrsrowdytums die Kontaktaufnahme z. B. eines Möchtegernmacho am Steuer seines Sportwagens mit dem Motorradfahrer gegenüber aussehen wird, der mit abgetöntem und natürlich  runtergeklapptem Visier so seine Probleme mit dem Blickkontakt haben wird (muss er das Visier dann hochklappen oder wo-möglich den Helm immer absetzen?).

Wenn dann auch noch Fußgänger, egal welchen Alters oder in welchem körperlichen Zustand, um den doch so wichtigen Blickkontakt ringen, könnte ich mir vorstellen, dass das Miteinander nicht mehr ganz so gleichberechtigt abläuft und kurz gesagt, der "Schwächere den Kürzeren" zieht.

Das wäre es dann wohl zumindest mit dem Paragraphen 1 Absatz 1 des Landesgleichberechtigungsgesetzes, dessen Ziel die Herstellung von gleichwertigen Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung ist und dessen Absatz 2 alle Berliner Behörden darauf verpflichtet, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Aber vielleicht ist das Gesetz, das in diesem Jahr allerdings schon sein zehnjähriges Bestehen feiert, ja noch nicht allen Behörden bekannt (nachzulesen bitte unter www.berlin.de/lb/behi/auftrag/gleichberechtigungsgesetz).

Veronika Schneider

Zum Thema Shared Space gibt es einen beachtenswerten Vorschlag von Fuss e.V. auf der Internetseite www.strassen-fuer-alle.de/

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Juni 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis