Zufluchtsorte für Kinder


Notinseln


"Ich will kein so teures Handy", erklärte mir der zehnjährige Schulkamerad meiner Tochter. "Die werden einem sonst abgezogen." Abziehen ist das euphemistische Wort. Man könnte auch sagen: rauben, abpressen, stehlen. Gemeint ist folgender Vorgang: Nach der Schule, in der das passende Opfer ausgespäht wurde, treten ein paar Schüler einem meist jüngeren Kind in den Weg und bedrohen es solange, bis es seine Wertsachen hergibt. Eine Markenjacke vielleicht, Geld, das Handy, den I-Pod... Viele Kinder sind so eingeschüchtert, dass sie die Eltern eine ganze Weile über den Verbleib der Sachen belügen, bis sie sich trauen, die Wahrheit zu sagen. Und oft wechseln sie die Schule, während die Täter dort verbleiben dürfen. Würden diese Kinder sich in Geschäfte flüchten, die den großen Aufkleber "Notinsel - Wo wir sind, bist du sicher" in ihre Schaufenster geklebt haben?
Offenbar ist es tatsächlich notwendig, Erwachsene dazu aufzufordern, Kindern Rettung anzubieten. Sind wir so gleichgültig geworden?

Großer Idealismus prägt Aktionen wie diese. Nun ist Tempelhof /Schöneberg der sechste Berliner Bezirk, der sich in Zusammenarbeit mit der Polizeigewerkschaft an diesem deutschlandweiten Projekt beteiligt. Die Ufa-Fabrik kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit. Man möchte etwas tun, irgendwo den Hebel ansetzen, die Dinge zum Guten wenden. Das verdient Respekt. Auch das Flaggezeigen von Läden, die sich an diesem Vorhaben beteiligen, wie etwa die "Trollinge", die in der Varziner Straße Schöngenähtes und schöne Stoffe anbieten. Wer möchte schon drei potenziell gewaltbereite Zwölfjährige in seinem Laden haben, nachdem sie von der nächstgelegenen Schule aus ihr Opfer vor sich hergetrieben haben. Auch der Schlüsselspezialist Knorr in der Hedwigstraße zieht mit, und der "Froschkönig" in der Schmargendorfer Straße.

Doch was sind das für Kinder, die sich überhaupt Hilfe holen? Ich könnte mir denken, dass gerade jene, die zum Opfer taugen, weit davon entfernt sind, so gut für sich zu sorgen. Wie bei jeder dieser Diskussionen endet für mich die Überlegung darin, dass jeder Cent in Gewaltprävention in den Kindergärten und Schulen investiert werden muss, in das Training von respektvollem Umgang und in die Stärkung des kindlichen Selbstbewusstseins.
Schärft man seinem Kind nicht ohnehin ein, immer auf belebten Straßen zu bleiben und sofort in ein Geschäft zu gehen, wenn es sich bedroht fühlt? Auch die Täter wissen das und werden sich gerade dort aufhalten, wo man sich nirgendwohin retten kann: am Rande des Schulhofes, in Wohnstraßen, auf Spielplätzen.

Woher sollen die Kinder übrigens wissen, wo die nächste Notinsel ist? Die teilnehmenden Geschäfte verpflichten sich zu umfangreichen Hilfeleistungen für das Kind, doch wo ist die Vernetzung mit den Schulen? Ganz abgesehen davon, dass die Hilfsbedürftigen von dort kommen, so schicken doch auch alle Gewerbetreibenden ihre Kinder zur Schule - sie wäre  also die richtige Multiplikatorin. Marie, auch 10, wurde nicht von der Schule informiert. Doch sie beruhigt mich und meint, man könne den Aufkleber auch ohne Erklärung verstehen, und ja, sie würde eher in so einen ausgewiesenen Laden gehen und dem Versprechen glauben.
Mit ähnlicher Verve wurde vor Jahren Hilfe gegen rassistische Übergriffe propagiert. Auch jene Aufkleber sind lange verblasst. Oder sind sie nicht mehr notwendig? Schön wäre es, wenn eines Tages jeder Friedenauer eine wandelnde Notinsel wäre, und jedes Kind so verstrauensvoll, dass es Hilfe sucht und annimmt. Bis dahin: Erzählen Sie Ihren Kindern von den Notinseln!

Friedenauer Gewerbetreibende können ab sofort ihren Beitrag leisten und öffentlich zeigen, dass sie Kindern in Not beistehen - auch wenn sie bisher dachten, dass so etwas selbstverständlich sei. Anmelden kann man sich  im Internet unter www.notinsel.de.

Sanna v. Zedlitz

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Mai 2009  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis