Gedenken an den Holocaust


„Jeder Mensch hat einen Namen…“


„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sagt Gunter Demnig, der mit dem Projekt Stolpersteine die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer lebendig hält. Bis jetzt wurden fast 20.000 Stolpersteine in über 480 Orten verlegt. Die Initiativgruppe Stolpersteine Stierstraße hatte im September die Nachbarschaft eingeladen, sich in der Stierstraße in Friedenau vor den Häusern von Opfern zu versammeln und mit einer Gedenkfeier neue Steine der Öffentlichkeit zu übergeben. Diese Stolpersteine sind für:

Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons, 58 Jahre, ermordet im Juni 1933 von der Gestapo
Leo Löwenthal,48 Jahre, Hertha Löwenthal, 45 Jahre, Gert Löwen-thal,15 Jahre, Heinz Löwenthal, 10 Jahre, ermordet im März 1943 in Auschwitz
Bernhard Cohn, 48 Jahre, Minna Cohn, 44 Jahre, ermordet 1943 in Auschwitz
Clara Sabbath, 79 Jahre, Richard Adam, 66 Jahre, deportiert 1942 nach Theresienstadt, dort umgekommen
Frieda Lewin, 39 Jahre, deportiert, vermutlich in Treblinka ermordet
Herbert Altmann, 36 Jahre, Alice Altmann, 21 Jahre, ermordet  1943 in Auschwitz
Ruben Riesenburger, 70 Jahre, Minna Riesenburger, 81 Jahre, deportiert nach Theresienstadt, dort umgekommen
Georg Krayn, 50 Jahre, Irmgard Krayn, 43 Jahre alt, deportiert 1943 nach Theresienstadt, ermordet in Auschwitz 1944.

Die Initiative hat biografische Daten der Ofer zusammengetragen und diese der Stadtteilzeitung zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt:



Stierstraße 20

Seit 1937 lebte im Vorderhaus im 3. Obergeschoss Leo Loewenthal (Versicherungsagent) mit seiner Frau Hertha und den beiden Kindern Gert und Heinz. Die Familie wurde am 3. März 1943 mit 1726 Menschen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Eltern waren 47 bzw. 44, die Kinder 14 und 9 Jahre alt.

Seit März 1942 wohnte in der Wohnung Loewenthal das Ehepaar Minna und Bernhard Cohn (Drogist) in einem Zimmer zur Untermiete. Vorher hatten sie in Wilmersdorf eine eigene Wohnung. Bernhard Cohn war in den letzten Jahren Zwangsarbeiter bei den Petrixwerken in Niederschöneweide, zuletzt bei A.D. Riedel in Britz. Er wurde wahrscheinlich bei der „Fabrikaktion“ am 27.2.1943 am Arbeitsplatz verhaftet. Am 1. März 1943 wurde er im Alter von 57 Jahren zusammen mit 1722 Menschen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Minna Cohn wurde am 4. März 1943 im Alter von 44 Jahren zusammen mit 1120 Menschen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.



Stierstraße 21

Richard Adam (Baumeister) lebte zusammen mit seiner Schwester Clara Sabbath seit Januar 1939 im Vorderhaus, 1. Obergeschoss in einer 6 Zimmer-Wohnung. Vorher lebte er als Architekt am Tempelhofer Ufer. Richard Adam und seine Schwester Clara Sabbath wurden im September 1942 im Alter von 66  bzw. 79 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Er verstarb dort im Februar1944, sie bereits wenige Wochen nach der Ankunft im Oktober 1942.

Frieda Lewin war Anfang 1939 mit ihren beiden Söhnen aus Baruth nach Berlin gezogen, nachdem ihr Mann Salomon Lewin in der Reichspogromnacht  im November 1938 verhaftet worden war. Frieda Lewin konnte ihre beiden Söhne Joachim (9 Jahre) und Martin (8 Jahre) mit einer israelitischen Hilfsorganisation nach Frankreich in Sicherheit bringen. Von dort wurden sie 1941 in die USA gebracht. Mit Martin Lewin, 78 Jahre alt, steht unsere Gruppe in Kontakt. Der Vater wurde nach seiner Freilassung des Landes verwiesen, ohne seine Frau Frieda Lewin mitnehmen zu können. Seine Odyssee führte über England, verschiedene Camps in Australien und schließlich, Anfang der fünfziger Jahre, in die USA, wo er seine beiden Söhne wieder fand. Frieda Lewin zog 1939 in die Wohnung von Richard Adam in ein Zimmer zur Untermiete. Sie erhielt keinerlei Nachrichten über den Aufenthaltsort ihres Mannes und ihrer beiden Söhne. Anfang April 1942 wurde sie im Alter von 39 Jahren zusammen mit 1000 Menschen nach Trawniki deportiert. Der Zug kam jedoch letztlich in Warschau an. Ihr Todesort ist unbekannt.

Ebenfalls in der Wohnung  Richard Adam lebten als Untermieter seit 1942 das Ehepaar Herbert und Alice Altmann, vorher wohnten sie in der Beckerstraße. Sie blieben auch nach der Deportation von Richard Adam und seiner Schwester Clara Sabbath zusammen mit den anderen Untermietern Klara und Adolf Cohn mit ihrer Tochter Eva in der Wohnung, bis sie am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Herbert Altmann war 35 Jahre, Alice Altmann 20 Jahre alt.

Clara Cohn war 51 Jahre, Adolf Cohn 61 Jahre, Eva Cohn 18 Jahre alt. Für Clara, Adolf und Eva Cohn wurden am Dienstag, dem 15. September 2009 Stolpersteine in der Berchtesgadenerstraße 35 gelegt, wo sie zusammen mit ihren Eltern gewohnt hatten, bis diese am 1. September 1942 deportiert wurden und sie selbst die Wohnung räumen und in die Stierstraße 21 zur Untermiete wohnen mussten.

Die Eltern und  Brüder von Herbert Altmann waren 1938/39 nach Argentinien ausgewandert. Alice Altmann hatte mit ihren Eltern Erich und Käthe Lippmann und ihrer Zwillingsschwester Lilli hier in Friedenau in der Beckerstraße 5 gelebt. Sie wurden ebenfalls am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Für sie gibt es noch keine Stolpersteine.
Die Familie Lippmann stammte aus Schneidemühl in Pommern. Ein in Israel lebender Vetter, der noch Ende 1939 nach Palästina emigrieren konnte, sagte mir: „Die Familie meines Vaters hatte 250 Jahre in Schneidemühl gelebt, mein Großvater hatte bereits im Krieg 1870/71 und viele Familienmitglieder im Ersten Weltkrieg gekämpft, alle erhielten Orden, meine Familie war deutscher als Hitler!“

In der 3. Etage im linken Seitenflügel wohnte das Ehepaar Irmgard und Georg Krayn. Von 1911-1914 besuchte Georg Krayn die jüdische Lehrerbildungsanstalt zu Berlin. Nach seinem Ersten Lehrexamen unterrichtete er von April  bis Dezember 1914 in der privaten israelitischen Gartenbauschule in Ahlen bei Hamburg. Wie tausende andere Juden war er freiwilliger Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, wurde wegen Tapferkeit befördert und für das Eiserne Kreuz I. Klasse vorgeschlagen. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst bei der Dresdener Bank Berlin, unterrichtete 1923-1926 an jüdischen Schulen Religion, erhielt 1926 das Reifezeugnis eines Realgymnasiums in Latein, Englisch und Mathematik und konnte dann nach jahrelangen Schwierigkeiten den Staatlichen Schuldienst antreten. Er war Lehrer in der 14.Volksschule in Schöneberg, der heutigen Loecknitz-Grundschule. In ihr gab es im Rahmen eines Schulmodells für einige Jahre innerhalb der christlichen Schule eine jüdische Klasse mit jüdischen Lehrern. Er war dort Klassenlehrer und unterrichtete entsprechend seiner Ausbildung alle Fächer, nicht nur Religion. Ein ehemaliger Schüler, der mit seinen Eltern rechtzeitig auswandern konnte, beschreibt ihn als einen gütigen Lehrer, der von den Kindern geliebt wurde. Er lud sie in sein Heim ein, wo – wie der ehemalige Schüler schreibt – „seine sehr nette Frau umsichtig waltete.“ Er hatte im Juli 1926 Irmgard Riesenfeld geheiratet.
Am 1. April 1933 wurden die jüdischen Lehrkräfte in allen Schulen bis auf weiteres beurlaubt. Einige Tage danach wurde die Beurlaubung aufgehoben für diejenigen, die zur Aufrechterhaltung des jüdischen Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen erforderlich waren. Georg Krayn durfte nur noch Religionsunterricht erteilen. Im September 1933 musste er seinen Eid auf den Führer des deutschen Reiches Adolf Hitler schwören. Zum 31. Dezember 1935 wurde er aufgrund des Reichsbürgergesetzes zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
In die Wohnung von Irmgard und Georg Krayn wurde das Ehepaar Ruben und Minna Riesenburger zur Untermiete zwangseingewiesen. Ruben Riesenburger war bis zu Beginn des Dritten Reiches ein wohlhabender Tabakhändler. Später hatte er seinen Laden unten im Haus Nr. 21, wahrscheinlich dort, wo bis vor einigen Jahren der Brillenladen war. Im Ersten Weltkrieg war er ein hochdekorierter Pilot. Er war so berühmt, dass es Spielkarten mit seinem Bild gab. Riesenburgers hatten eine Tochter, die nach Shanghai und später in die USA auswanderte sowie weitere Verwandte, die nach Frankreich und Palästina gingen. Ruben und  Minna Riesenburger wurden im Januar 1943 im Alter von 69 bzw. 8o Jahren nach Theresienstadt deportiert. Dort ist Minna Riesenburger im April 1943, Ruben Riesenburger ein Jahr später im April 1944 umgekommen.
Das Ehepaar Krayn hat die Deportation seiner Untermieter noch erlebt, bevor sie selbst im März 1943 zusammen mit 1300 Juden nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert wurden. Bei ihrer Ermordung war Irmgard Krayn  43 Jahre, Georg  Krayn 50 Jahre alt.



Stierstraße 4

Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons stammte aus Baumgarten in Schlesien, wo er 1875 geboren wurde. Nachdem er die Offizierslaufbahn bis zum Rittmeister eingeschlagen hatte, war er als Industriekaufmann tätig. In den zwanziger Jahren hielt er Vorträge, in denen er erst die Politik des Zentrums, dann der Deutsch-Nationalen unterstützte. Ab 1931 wurde er zum Kritiker und Gegner der NSDAP. Er verfasste eine Schrift mit dem Titel Führer des Dritten Reiches. Hierin beschrieb er die kriminelle Vergangenheit einiger Nazi-Größen und kritisierte die NSDAP als unmoralisch und korrupt. Diese Broschüre erreichte eine hohe Auflage, und Stanislaus von Nayhauß-Cormons erläuterte sie auf Vortragsreisen. Bereits im Juli 1932 wurde von Nayhauß-Cormons mit seiner Frau auf einer dieser Reisen in Halberstadt von Nazis bedroht. Dennoch setzte Stanislaus von Nayhauß-Cormons auch nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 seine Vortragsreisen mutig fort. Am 7. März 1933 überfielen 8 SS-Männer diese Wohnung in der Stierstraße 4, suchten vergebens nach von Nayhauß-Cormons und bedrohten seine Ehefrau Erika. Dieser Überfall wiederholte sich noch zwei weitere Male.
Am 26. Juni wurde Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons in Breslau von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen und bestialisch ermordet. Er wurde – an Händen und Füßen gefesselt und mit einem Stein beschwert – aus einem Wasser geborgen. Seine Ehefrau Erika bemühte sich hartnäckig und unerschrocken um Aufklärung und erreichte tatsächlich ein Eingeständnis der Gestapo. Ein entsprechender Prozess wurde allerdings niedergeschlagen und die Witwe zu Stillschweigen gezwungen.
Lesen Sie einen Beitrag von Dirk von Nayhauß in der Berliner Morgenpost vom 20.09.2009

Die Stolpersteininitiativgruppe Stierstraße Friedenau gedenkt der Deportierten und Ermordeten aus den Häusern Stierstraße 4/20/21.

Eine Bildergalerie von der Einweihung finden Sie hier.


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