Glosse
Intelligente Gene?

Es ist ja alles so deprimierend. Selbst wenn unsere Schulen besser ausgestattet, die Lehrer motivierter, die Kinder von Hartz IV-Empfängern besser abgesichert wären: das nützt alles nichts, weil Intelligenz oder deren Fehlen zum großen Teil erblich bedingt ist, sagt der Ex-Finanzenator Berlins.

Der Apfel fällt einfach nicht weit genug vom Stamm und das ist nun einmal die Schuld des Apfelbaumes. Thilo Sarrazin ist selbst ein gutes Beispiel dafür: er kommt aus bester Familie und nach seinem Urgroßonkel ist sogar eine Straße in Friedenau benannt. Und nach ihm wird später sicherlich auch irgendetwas benannt werden. Vielleicht eine Suppenküche?

Neulich hatten wir ein Gespräch unter Müttern über die schulische Zukunft unserer Sprößlinge.
„Meene Kimbali kann allet, weeß allet, dabei hab’ ick ja nich’ mal Hauptschulabschluss.“ sagte Mary und zog an ihrer Zigarette. „Die Kimbali is eindeutisch ein Fall für’t Gümnasium!“
Tülay, die auch bei uns stand, schaute plötzlich grimmig. „Mein Mehmet ist auch ein Fall für das Gymnasium. Und was passiert? Der Lehrer sagt, wir sollen ihn doch lieber nicht schicken. Warum sagt der das?“
„Bist eben nich’ rischtisch intrikriert!“, grinste Mary selbstzufrieden.
„Hä?“, fragte Tülay.
„Integriert!“, dolmetschte ich. „Aber das meint Mary nicht böse.“
„Stimmt. Du hast ja keen Kopftuch und keen Mann!“
Tülay, alleinerziehende Mutter, verdrehte die Augen ob dieser Dummheit.
„Das Gymnasium ist auch nicht mehr das Gelbe vom Ei“, versuchte ich zu trösten. Aber das glaubte mir keine der beiden Mütter.
Neben uns stand Hannah, ebenfalls alleinerziehend, aber mit Diplom und allem drum und dran.
„Ich werde den Paul-Pelle sowieso herunter nehmen und auf eine Privatschule schicken!“, sagte sie.
„Haste nich’ Angst, dass der da nüscht lernt?“, fragte Mary neugierig. Hannah schüttelte den Kopf und murmelte etwas von tollem pädagogischen Konzept und weniger Leistungsdruck. Unter vier Augen hatte sie mir vor kurzem gestanden, dass sie es satt habe, ihren Sohn mit den ganzen Unterschichtskindern in einer Klasse zu wissen. Paul-Pelle sei hochbegabt, damit könnten die Lehrer nicht umgehen. Dass seine Noten schlechter als die von Kimberly sind, zeige die ganze Absurdität der Notengebung.
„An der neuen Schule machen 90 % der Kinder Abitur!“, erklärte sie der Mütterrunde.
„Toll. Und wenn et nich klappt, kann Pelle-Paul ja Gärtner wer’n. Wo er immer so jerne im Gras sitzt!“
Mary spielte auf Paul-Pelles Ruf als Träumer an. Nun rollte auch Hannah mit den Augen und war beleidigt.

Schon merkwürdig, dass eine Akademikermutter dermaßen Angst hat, ihr Sohn könne nicht Abitur machen. Wo der doch mit der Geburtsurkunde praktisch schon das Abiturzeugnis erhalten sollte - bei den Genen. Es scheint jedoch nicht ganz so einfach zu sein. Der Kinder- und Jugendpsychiater Largo erklärt in seinem neuesten Buch „Schülerjahre“,  dass der Mensch zum Mittelmaß neigt. „Regression to the mean“ – Rückentwicklung zur Mitte heißt das in Fachsprache. „Superintelligente“ und „dumme“ Eltern haben statistisch gesehen gleichermaßen eher durchschnittlich intelligente Kinder. So gesehen ist die Angst der Akademikermütter besser nachvollziehbar. Statistisch gesehen könnte Kimberly sogar genauso intelligent oder intelligenter sein als Paul-Pelle – trotz Unterschichtsherkunft. Dass Paul-Pelle mit größerer Wahrscheinlichkeit weiter kommen wird als Kimberly oder Mehmet, hat vielleicht weniger mit den Genen als mit dem Schulsystem zu tun. Für diese Theorie ist Sarrazin übrigens auch ein gutes Beispiel. Kommt aus guter Familie, hat einen berühmten Urgroßonkel, musste nie von Hartz IV leben, gibt aber trotzdem oder gerade deswegen merkwürdige Dummheiten von sich. Ob das die Schuld der rückentwickelten Gene ist?

Isolde Peter

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April 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis