These trifft Antithese
Gedankenexperimente im Freien

„Heute machste dir kein Ahmtbrot – heute machste dir Gedanken“ (Wolfgang Neuss)

Es war an einem Donnerstag, als erstmalig in diesem Jahr, gleichzeitig mit der durchgängig blauen Himmelsfarbe von oben auch die wohlig von unten aufsteigende Erdwärme für das ersehnte Freiheitsgefühl sorgte. Darauf hatten wir nur gewartet, um endlich auch außerhäuslich wieder so richtig Platz zu nehmen.

Ich saß unter den Eichen auf der Anhöhe der alten Schöneberger Aue, die nun witterungsbedingt wieder als Volkspark vereinnahmt wurde, und las eine Rezension eines Buches über Ludwig Wittgenstein. Dessen berühmter Tractatus logico-philosophicus läuft darauf hinaus, dass man am Ende schweigen muss, wenn man auf der Erkenntnisleiter nicht mehr weiter kommt.

Als ich gerade davon las, dass Fragen, wenn sie erfahrungsmäßig nicht beantwortet werden können, in Gedanken vollzogen werden müssen und solche Gedankenexperimente immer dann scheitern müssen, wenn den dabei verwendeten Bildern eine Aussagekraft zugeschrieben wird, die sie nicht wirklich haben, in genau diesem Moment erhielt ich Anschauungsunterricht zu dieser These.

Eine junge Mutter parkte einen sportlichen Kinderwagen an der Nachbarbank ein und nahm ihr darin klagendes Kind auf den Arm. Es wurde aber auch an diesem neuen Platz nicht besser mit der Stimmung, sodass die Mutter jene Klangfolge nachzubilden begann, indem sie die von oben herabfallende Tonmelodie des Kindes exakt und mit immer gleicher Anteilnahme bis zu jenem Umkehrpunkt wiederholte, von dem aus der kleine Vorsänger wieder auf die alte Starthöhe sprang, um erneut hinunterzufahren in die Abgründe seiner Not, auch hier wieder gefolgt von der mütterlichen Antwort.

Wie die Sache endgültig ausgegangen ist, kann ich zwar nicht berichten, denn nach zahlreichen Wiederholungen kam der Klagende in den Sitz eines Tragetuchs, wo sich die Inbrunst des Gesangs sofort beträchtlich verminderte, um im darauf folgenden Abgang gänzlich zu verstummen. Aber ich bin zuversichtlich, dass beide im Frieden miteinander zu Hause angekommen sind.

„Er will immer in das Tuch“, hatte die geduldige Mitsängerin einer neu eingetroffenen Mutter noch im Abgang erläutert, und diese hatte geantwortet: “Das kann dauern. Bei mir hat es sieben Monate gedauert.“

Selbst das schönste Bild eines immerwährenden Duetts vermag also den erlebten Trennungsschmerz nicht zu betören, solange keine Bereitschaft dazu vorhanden ist. Wie aber kommt diese Bereitschaft zustande? Hieß es doch im Text, dass ein Gedanke notwendig scheitern müsse, wenn dessen Aussagekraft nicht von der Erfahrung bestätigt ist. Woher soll aber Erfahrung kommen, wenn der Gedanke sie nicht zulassen mag?

Der Lauf der Dinge im Urstromtal
Die neuangekommene Mutter zeigte mir die Lösung. Auch sie musste Tränen trocknen, wozu sie sich das Kind ihr zugewandt auf den Schoß setzte. Dort durfte die Kleine zunächst den Schnuller kosten. Dann aber begann ein sowohl aufregendes als auch beruhigendes Geben und Nehmen.

Die Mutter zog nämlich rückwärts und mit ihrem eigenen Mund nach einer klug bemessenen Vergnügungszeit den Schnuller wieder aus dem Mund der eigentlich noch Unglücklichen. Sie näherte ihn aber sogleich und mit schalkhaftem Lächeln wieder an, sodass die Kleine ihr ursprüngliches Glück mühelos wieder herstellen konnte, woraufhin nun ein herzliches Mund zu Mund-Gespräch begann, dessen Glück in der Außerkraftsetzung des Zweifels bestand.

Ein verlorenes Glück, welches mit Leichtigkeit wiederzuerhaschen ist, braucht auch nicht beweint zu werden. Daher verlor die Kleine schließlich zuerst das Interesse an dem Spiel und damit auch an der eigenen Trauer, sodass sie sich nunmehr der Welt zuwenden konnte.

Ende gut, alles gut
Ich verlor daraufhin das Interesse an meiner Lektüre und begab mich noch ganz aufgeräumt auf eine Runde durch den Park. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, hätte Wittgenstein diese beiden Mütter und deren Kinder zur Belehrung seiner Hörer in die Vorlesung eingeladen. Denn da hatten doch zwei Mütter, ohne vermutlich Philosophie studiert zu haben, die These Wittgensteins durch ihr praktisches Tun bestätigt, wonach es darauf ankommt, auf unbekanntem Boden solche Verständnisbilder zu entwickeln, die von der Erfahrung bestätigt werden könnten, wenn es denn eine Möglichkeit dazu gibt.

So musste etwa die frühere Vorstellung vom Mars als dem Kriegsgott Ares aufgegeben werden, weil unsere Marssonden dieses Bild widerlegt haben. Viel schöner für uns ist aber das Erlebnis der Bestätigung unserer Bilder. Beide Mütter konnten sich daher darüber freuen, durch ihr Bildangebot  die Wirklichkeit in der Seele ihrer Kinder getroffen zu haben, die eine musikalisch, die andere mimisch, wodurch der Friede in den Park kam.  

Als ich den Park verließ, wallten die tiefen Töne der Freiheitsglocke vom Schöneberger Rathaus mir nach. Ja, sagte ich zu mir, so lernt man Freiheit, denn wie wir seit Kant wissen, ist Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit.

Ottmar Fischer


Juli 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis