Divertimento für Drehorgeln

Leierkästen vor dem Neptunbrunnen. Foto: Jürgen Thierfelder

Leierkästen in Friedenau

„Zu nachstehendem Artikel fühle ich mich veranlaßt, im Interesse unseres emporstrebenden Ortes Friedenau und seiner Geschäftsleute, hauptsächlich der Rheinstraße, über die Leierkästen zu sprechen. ...

Vom Ansehen und den Fortschritten eines Ortes ausgehend ist ein Umherziehen von Leiermännern aus den Straßen schon sofort zu verurteilen. Diese dörfliche „Mode“ hätte demnach schon längst abgeschafft werden  müssen. Die Wirte sind darauf bedacht, ruhige und gute Mieter für ihre Herrschaftshäuser zu gewinnen, die nicht durch „Hof – Musik“ gestört werden; was nutzt aber der gute Wille, wenn der Leierkasten „das Recht der Straße“ besitzt, und man seinen trivialen Weisen und verstimmten Klängen oft 5 -6 Mal am Tage auf beiden Seiten der Straße zuhören muß, auch wenn er vor dem zweiten oder dritten Nachbarhaus steht ? Und wie oft werden die Geschäftsleute durch das Hausieren, besonders an den Montagen, inkommodiert. Der Leierkastenmann ist zugleich der Bettler der Straße geworden, der vor dem Hausbettler den Vorzug hat, keine Kontrolle fürchten zu müssen.

Gibt es keinen anderen Ort als Friedenau, wo die Spielmänner, die auch den Schulunterricht durch Ablenkung der Kinder beeinträchtigen, sammeln können? Auch wird es Höfe in unserem Ort geben, wo ein Leierkastenmann einkehren kann, ohne dass die Mieter der Vorderhäuser, wie es jetzt geschieht, gestört werden. Und wie empfindet man diese Störung bei schriftlicher, geistiger Arbeit; wie oft müssen Musiklehrer den Unterricht unterbrechen, weil der Leierkastenmann mehr Recht hat wie der ansässige Bürger. Da ist es dringend notwendig, dass bald eine Befreiung von dieser Plage eintritt. Die Leierkästen gehören nicht auf die Straße eines fortschrittlichen Ortes! Die Mehr-zahl der Bürger von Friedenau werden mir beistimmen und darum sei die Bitte an unsern Hochwohllöblichen Gemeinde-vorstand gerichtet, die Interessen seiner Einwohner in diesem Sinne zu vertreten.
J, S. Friedenau, Rheinstraße“
Quelle: Leserbrief aus dem „Friedenauer Lokal Anzeiger“ vom 28. Juli 1910

Nach nunmehr 100 Jahren ist so vieles anders geworden. Die “üblen“ Bettler von damals sind heutzutage im hochwohllöblichen Verein „Internationale Drehorgelfreunde Berlin e.V.“ mit Dienstsitz in Berlin – Neukölln organisiert und feiern am 3. und 4. Juli auf dem Kurfürstendamm und dem Breitscheidplatz ihr alljährliches und großes Fest mit Drehorgelspielern aus vielen Ländern unter der Schirmherrschaft der Charlottenburger Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen. Die Zuhörer und Zuschauer können sich auf ein erlesenes Schauspiel freuen. Zwei große Höhepunkte gibt es: Am Sonnabend (3. Juli) findet ab 11 Uhr ein Umzug über den Kurfürstendamm von der Windscheidstraße bis zum Breitscheidplatz statt, wo von 12 bis 17 Uhr auf einer Bühne die einzelnen Drehorgelspieler aus sieben Nationen vorgestellt werden. Am Sonntag (4. Juli) geht es mit dem Bühnenprogramm von 13 bis 18 Uhr weiter. Der zweite Höhepunkt ist am Sonntag um 15 Uhr ein Klassisches Drehorgelkonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit einer Auslese von wertvollen Orgeln, die einen absoluten Hörgenuss bieten. Der Eintritt ist frei!

Hartmut Ulrich


Juli 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis