Streiflichter und Stippvisiten


Berlinale-Hopping


Wieder einmal ist die Berlinale über uns hinweggerauscht, zum 60. mal. Im Fernsehen gab es viele Rückblenden und "es war einmal" zu besichtigen, die Stars von damals und die Muttchen, die ihnen auf dem Kudamm auflauerten, die berühmten Regisseure und nochmal das "gute alte" West-Berlin und so weiter und so fort.

Hat man ja alles schon oft gesehen. Sehr glamourös fand ich die diesjährige Berlinale nicht, aber vielleicht lag das ja auch am Wetter und vor allem am Eis, das auch auf dem Potsdamer Platz und am roten Teppich nicht beseitig worden war. Das Überqueren der Potsdamer Strasse, um vom Berlinale-Palast zum Sony-Center zu gelangen, war ein Vabanque-Spiel. Nicht, dass ich dafür plädieren wollte, wenigstens für Promis und Touristen unfallfreie Pisten zu schaffen, und wir Eingeborenen können uns in unseren Nebenstrassen die Haxen brechen; aber dass es denen, die für unsere Stadt zuständig sind, völlig wurscht zu sein scheint, wie das Leben in Berlin am Laufen gehalten werden kann und sie die Schattenseiten der privatisierten Schneeräumung offenbar als gottgegeben hinnehmen, ist einfach skandalös.

Leider gibt es für unsere Arbeit an der Stadtteilzeitung keine Akkreditierung zur Berlinale, wir sind ja keine "richtigen" Journalisten. Und einen Presseausweis haben wir schon gar nicht - der kostet viel Geld. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als auf gut Glück hier und da die Nase reinzustecken, am liebsten in die Forums- und Panoramafilme, in denen man etwas über den Alltag in fernen Ländern erfahren kann. Die Wettbewerbsfilme kommen ja sowieso bald in die Kinos. Also blättere ich in den Programmen in der Hoffnung, dass die Inhaltsbeschreibungen der professionellen Kollegen einigermaßen das wiedergeben, was der Film zeigt und nicht alle von einem abgeschrieben haben, der vielleicht einen fremdsprachigen Pressetext missverstanden hat. So handelt z.B. der sehr schöne brasilianische Panorama-Film "Waste Land" gar nicht von Müllplastiken, die von den Müllsortierern in Rio de Janeiro hergestellt wurden, wie immer wieder in den Medien behauptet wurde. Hier noch einmal zum Mitschreiben: Es geht um den berühmten brasilianischen Künstler Vik Muniz, der arrangierte Fotos von einigen der Arbeiter und Arbeiterinnen auf der "weltgrößten Müllkippe" (Waste Land) gemacht und sie künstlerisch bearbeitet hat und damit ihre Arbeit und auch ihr Leben dokumentiert. Sehr berührend zu erleben, wie sie, deren in jeder Hinsicht atemberaubenden Arbeitsplatz und deren desolate Lebensumstände der Zuschauer kennenlernt, durch die künstlerische Aufwertung an Selbstvertrauen und Selbstrespekt gewinnen und neue Lebensperspektiven finden. Man trug einem mitangereisten Arbeiter Grüße an die anderen auf und hofft, der Film möge den Weg in die deutschen Kinos finden. Sehr zu Recht erhielt er den Panorama-Publikumspreis.

In dem argentinischen Film "Rompecabezas" (Puzzle) war ich auf die Klagen einer Journalistin hereingefallen, in den argentinischen Filmen dieser Berlinale seien nur leidende Frauen dargestellt worden, die ihr Schicksal ertragen, anstatt zu kämpfen. Weil ich ständig, sozusagen mit eingezogenem Kopf, auf die Schicksalsschläge wartete, wurde ich etwas um das Vergnügen an der subtilen Geschichte einer Familienmutter gebracht, deren geheime Leidenschaft, das Puzzlespiel, von ihren Lieben bespöttelt, aber durch einen Gleichgesinnten bestätigt wurde, der  einen Traniningspartner für einen Wettbewerb suchte. Dass sie letztenendes auf die sich anbahnende erotische Beziehung mit ihm verzichtete, zeugt eher von Stärke als von Leidensbereitschaft, wenn es auch nicht ohne Bedauern abging.

Zeit und Geld reichten gerade noch für zwei weitere Filme  (es sind ja auch immer Restaurant- oder Cafébesuche mit dem Kinovergnügen verbunden!) In dem kanadischen Film "La belle Visite" wird das Leben in einem Altenheim zwischen Mahlzeiten, Arztbesuchen und kleinen Spaziergängen beschrieben. In der anschließenden Diskussion mit dem jungen Regisseur des Films wurde u.a. die Frage aufgeworfen, ob es legitim sei, eine so enge Perspektive für das Leben alter Menschen zu wählen, um die Eingeschränktheit des Lebens im Alter zu  dokumentieren. Wir zwei gestandenen, auch nicht mehr jungen Frauen, die wir uns zu diesem Film verabredet hatten, diskutierten anschließend in der Kneipe weiter. Für uns jedenfalls können wir uns ein Leben ohne Gespräche und kulturelle Interessen auch im Alter nicht vorstellen.

In dem israelischen Film "Phobidilia" dann geht es um Einschränkungen ganz anderer Art. Ein junger Mann von vielleicht Mitte/ Ende Zwanzig hat sich vor vier Jahren nach einer Panikattacke in seine Wohnung geflüchtet und diese seitdem nicht mehr verlassen. Seine Arbeit als Programmierer kann er von dort aus verrichten, alles, was er benötigt, bestellt er sich per Telefon. Die Kontakte zur Außenwelt, auch die erotischen, hält er übers Internet und den Fernseher, der den ganzen Tag läuft. Körperliche Wärme spendet ihm sein Kater Alfons. Sein paradiesisches Leben nennt er das. Und aus diesem Paradies wollen ihn zwei Menschen vertreiben: sein Hausverwalter, der sich in seiner Jugend vor den Nazis in einem engen Raum verstecken musste und es nicht aushalten kann, den jungen Mann in seinem selbst gewählten Gefängnis zu beobachten. Und eine junge Frau, die eines Tages vor seiner Tür steht und ihm etwas andrehen will ("Herzlichen Glückwunsch, Sie haben … gewonnen!") und sich in ihn verliebt. Der Film handelt vom Prozess der Austreibung aus dem "Paradies", der durchaus skurrile und komische Züge hat, sich dann aber dramatisch zuspitzt und erst im allerletzten Moment gelingt.

Dies also mein diesjähriger Berlinalestreifzug - die nächste Berlinale kommt bestimmt!

Sigrid Wiegand

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März 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis