Wir waren Nachbarn


Luise Zickel

geboren 1878 in Breslau, verschollen 1942 im KZ in Riga

"Ich war und bin noch sehr aktiv in meiner Schularbeit, aber ich fühle mit Gewissheit,  dass ich in einem anderen Land nichts anderes (mehr) anfangen kann, sobald ich mein  Lebenswerk, die Schule, die ich mein Leben lang gelebt habe, aufgebe (…) Ich halte mich für zu alt, um noch einmal ein Leben in einem fremden Land anzufangen."

Dies schrieb die Lehrerin und Schulleiterin Luise Zickel am 9. Dezember 1938 an ihre Cousine Nina in die USA. Spätestens nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938  hatten viele Juden ihre Heimat verlassen, auch Luise Zickel war von ihren Verwandten gedrängt worden, in die Immigration zu gehen. Doch sie hielt die Nationalsozialisten für einen Spuk, der bald vorbeigehen würde und blieb in Berlin. Am 25. Januar 1942 wurden sie und ihre Schwester Anna abgeholt und nach Riga deportiert. Die beiden Frauen gelten als verschollen.

Die frühen Jahre
Luise Zickel wurde am 25. Oktober 1878 in Breslau geboren. Von ihren frühen Jahren ist nur wenig bekannt. Erstmals taucht sie in den Akten der Berliner Schulbehörde 1903/04 auf als Lehrerin für Englisch, Französisch und Geschichte in Charlottenburger Privatschul-Zirkeln. Wegen der nur halbherzig durchgeführten staatlichen Reform der Mädchenbildung (!) herrschte damals ein großes Interesse an privaten Mädchenschulen, aber auch eine große Konkurrenz untereinander; oft zeigten sich die Betreiberinnen solcher Einrichtungen gegenseitig, z.B. wegen "nicht angemessener Ausbildung", bei den Behörden an.

1907 hatte Luise Zickel ihr Schul-vorsteherinnen-Examen abgelegt und führte ein Pensionat für "höhere Töchter", deren Schulausbildung abgeschlossen war, "zur Vervollständigung ihrer Bildung." 1908 wurden diese Fortbildungskurse wegen fehlenden Oberlehrerinnenexamens verboten. 1911  zog sie deshalb nach Schöneberg, wo sie die Genehmigung zur Errichtung einer höheren Privatmädchenschule mit 10 aufsteigenden Klassen mit max. 10 Schülerinnen pro Klasse erhielt. Bis Anfang der 20er Jahre befand sich diese Schule in 2 Etagen eines "herrschaftlichen" Mietshauses in der Kufsteiner Str. 6. Mit 250 Schülerinnen wurde sie allmählich zu klein und zog 1932 in die Kufsteiner Str. 16 um.

Neue Schwierigkeiten
War Luise Zickels berufliche Laufbahn bis dahin von den Schwierigkeiten bestimmt, eine angemessene Ausbildung für Mädchen auf die Beine zu stellen, so tauchte ab 1933 ein anderes schwerwiegendes Problem auf. Am 25. April 1933 wurde das "Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" erlassen, das zur Begrenzung der Zulassung jüdischer Schüler und Studenten an Oberschulen und Universitäten auf 1,5% entsprechend dem jüdischen Bevölkerungsanteil führte, der nun auf rein jüdische Einrichtungen angewiesen war. Luise Zickel entschloss sich deshalb, auch Jungen in ihre Schule aufzunehmen und nannte sie "Höhere Privatschule für Mädchen und Jungen und jüdische Volksschule". Weil die Räumlichkeiten nun auch in der Kufsteiner Str. 16 nicht mehr ausreichten, zogen die Oberschüler in das ehemalige private Lorenz-Lyzeum in der Schmargendorfer Str. 25 in Friedenau um. Dort wurde ihnen von jüdischen Lehrkräften, die in den staatlichen Schulen entlassen worden waren, ein volles Lyzeumspensum angeboten, u.a. mit den Fremdsprachen Englisch, Französisch und Hebräisch und mosaischem Religionsunterricht. 1937 hatte die Schule 16 Lehrkräfte und mehr als 200 Schüler und Schülerinnen.

Die "Zickeleins"
"Zickeleins" nennen sich heute diejenigen Ehemaligen, die 2008 ein biografisches Album über ihre alte Lehrerin hergestellt haben, zusammengestellt aus Briefen, Fotos und Berichten über ihre Schulzeit. Streng sei sie gewesen und habe sehr auf Disziplin und Geschlechtertrennung geachtet; aber man habe viel auf ihrer Schule gelernt, und sie sei für sie dagewesen. Die Schule sei eine "Oase der Normalität" gewesen in einer Zeit, in der in Berlin nichts mehr normal für sie war. Luise Zickel, die nicht hatte auswandern wollen, unterstützte ihre Schüler und Schülerinnen, indem sie Kurse zum sog. "Cambridge Certificate" anbot, das zur Anerkennung deutscher Schulabschlüsse in England und den USA berechtigte. Am 31. März 1939 wurde die Schule zwangsweise geschlossen, viele Schüler waren mit ihren Familien ins Ausland emigriert. Luise Zickel erteilte noch längere Zeit Privatunterricht in ihrer Wohnung am Bayerischen Platz 2, bevor die über Sechzigjährige ihre Heimat doch noch verlassen musste, um ihr Leben in einem fremden Land zu verlieren.

In der Ausstellung "Wir waren Nachbarn" im Rathaus Schöneberg ist neben vielen anderen auch Luise Zickels Leben und Wirken dokumentiert. Die Geschichten jetzt nachlesen zu können, lässt die Zeit des Nationalsozialismus auf eine bedrückende Weise noch einmal aufleben.

Sigrid Wiegand

Wir waren Nachbarn
131 Biografien jüdischer Zeitzeugen
Ausstellungsinstallation im Rathaus Schöneberg
Mo-Do, Sa/So 10-18 Uhr
Eintritt frei

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März 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis