Die Geschichte von Agnes Bernelle und Liane Berkowitz | Ein Feature von Arnd Moritz

Der Viktoria-Luise-Platz. Foto: Arnd Moritz


Es war in Schöneberg

"Sie kommen seinetwegen aus New York?" fragt der Taxifahrer die alte Dame und parkt in der Motzstraße. "Yes, ich will Berlin nach 75 Jahren wiedersehen. Und den Viktoria-Luise-Platz!"

Spatzen überqueren im Tiefflug die gefrorene Schneedecke des Parks mit dem Namen der Tochter Kaiser Wilhelms des II. "Wir wohnten in diesem Haus, bis 1935. Wir gingen nach New York, rechtzeitig. Ich war 14!" "Sie sind schon 89?" staunt der Taxifahrer. "88, ich gehe jeden Morgen durch den Central Park!" Stolz liegt in ihrer Stimme. "Ich habe viele, die hier wohnten, gekannt. Auch die Bernauers und Liane Berkowitz. Sie wohnten hier, Hausnummer eins."

Der Taxifahrer achtet auf die rüstige alte Dame beim Überqueren der glatten Straße. Helfen lässt sie sich nicht. Dann schauen sie auf die beiden Gedenktafeln. "Da, sehen Sie! Rudolf Bernauer! Sie kennen seine Lieder? 'Es war in Schöneberg'? Er war Direktor mehrerer Berliner Theater. Ich kannte seine Tochter Agnes sehr gut. Das letzte Mal habe ich sie im Februar 1997 in der Hauptsynagoge in der 55. Straße getroffen. Die Familie hatte Berlin kurz nach uns verlassen. Sie ging nach London, später nach Dublin. Wir nach New York. Agnes wurde actress, Schauspielerin. Sie nannte sich 'Bernelle', machte viele Filme, Chansons, after the war. Sie spielte an der Seite von Orson Wells und Vivian Leigh. Einmal schrieb sie mir aus Irland einen Brief. Sie wollte Berlin nie wiedersehen." "Und? War sie jemals wieder hier?" Der Taxifahrer spürt die lebende Vergangenheit zwischen Winterfeldt- und Motzstraße. Die alte Dame schaut sich um. "Sehen Sie diesen Platz, rund, offen, fröhlich und so verwundbar? Er war das Zuhause unserer Kindheit und Treffpunkt ohne Vorurteile! Aber das änderte sich, soon. Es ist kalt. Gehen wir. Dort in das Cafe. Es war ein Eissalon, damals."

Vom Fenster aus sehen sie auf den Platz. "Und? War sie jemals wieder hier?" Sie schaut in seine Augen: Interessieren ihre Geschichten ihn wirklich? "Agnes war stolz, Engländerin zu sein. Yes, sie war wieder hier. Zu einer Uraufführung im Residenztheater. Sie hat über diesen Berlinbesuch und ihre damaligen Gefühle im Cornhill Magazine geschrieben. Sie fürchtete Berlin. Sie fürchtete, die Stadt wieder zu lieben. Nachts war sie hier, um die Straßen ihrer Kindheit im Mondlicht wiederauferstehen zu lassen. Aber die Häuser von damals stehen nicht mehr!" Der Taxifahrer spürt den wehmütigen Bezug zu einer unfassbaren Vergangenheit. Seine Ergriffenheit erreicht die alte Dame.

"Unfassbar ist das Schicksal von Liane Berkowitz. Sie wohnte im gleichen Haus. Von 1930 an. Auf der Tafel steht 'bis 1943'. Aber Liane wurde im September 1942 verhaftet. Sie war schwanger im zweiten Monat. Und sie war Mitglied der 'Roten Kapelle'. Das Reichskriegsgericht verhängte die Todesstrafe." Der Taxifahrer kann nicht sprechen und die Augen der alten Dame werden feucht. "Sie wurde fünf Monate nach Agnes am gleichen Tag, am siebten August 1923 geboren. Wir haben uns oft gesehen, sehr oft. Das Gericht selbst legte Hitler eine Begnadigung nahe. Die Bestie lehnte ab. Liane wurde drei Tage vor ihrem zwanzigsten Geburtstag in Plötzensee enthauptet." "Was ist aus ihrem Kind geworden?" "Ihre Tochter Irena kam im April 1943 zur Welt, soviel ich weiß! Später starb Irena." Die alte Dame ist mit einem Mal ganz ruhig. "Agnes hatte die Gedenkstätte Plötzensee besucht. Sie erzählte von zwei Deutschen, die feindliche Sender gehört hatten. Sie wurden zum Tode verurteilt. Agnes hatte in England bei einem Soldatensender gearbeitet. In Plötzensee wurde sie jetzt mit den grausamen Folgen ihrer Arbeit konfrontiert, für die sie sich in Verantwortung sah! Ob sie von Liane erfuhr, weiß ich nicht." Die entstehende Pause muss der Taxifahrer nicht aushalten. Er kann nichts sagen. "Ich hätte im Sommer herkommen sollen. Aber Agnes starb am 15. Februar 1999 und bis zum Sommer ist es vielleicht zu lange hin." Die alte Dame wirkt abwesend. "Im Sommer lebt der Platz und doch findet hier jeder Ruhe" bestätigt der Taxifahrer sie. Die alte Dame schaut auf ihre Armbanduhr. "Fahren Sie mich nach Tegel zum Flieger. Die Zeit ist jetzt um!"

Arnd Moritz

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März 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis