Das Herztier ist fort

Herta Müller während der shortlist-Präsentation ("Deutscher Buchpreis" 2009) im Literaturhaus in Frankfurt am Main.
Foto: Dontworry

Das Herztier ist fort

Vor vielen Jahren kannte ich eine Künstlerin, die erzählte mir, wie sie in den Wald gegangen war, um eine mächtige Eiche zu zeichnen.

Den ganzen Tag saß sie zu Füßen dieses Baumriesen und ließ ihn auf sich wirken. Sie studierte das Licht auf den Blättern, die Struktur der Rinde, den Wuchs, den Duft, sann den Ästen nach bis in die letzten kleinen Zweige – und verließ den Wald in der Abenddämmerung, ohne auch nur einen Strich getan zu haben. Sie wollte der Eiche nicht zu nahe treten. Ähnlich geht es mir mit Herta Müller. Wie nah darf man kommen?

„Ich stehe, wie so oft, neben mir selbst“, sagen Sie. Wen sehen Sie dann?

„Und überhaupt, du kannst doch kein ICH in deinem Artikel verwenden!“ entsetzt sich meine Kollegin. Aber ist Herta Müller nicht gerade deshalb hier: Weil sie zu ihrem ICH stehen wollte? Wir sitzen nach einer Lesung der Friedenauer Nobelpreisträgerin im Berliner Ensemble bei einem Gläschen zusammen und besprechen den Abend. Zu einem Interview, so richtig mit Termin und Fragen und Antworten, waren wir nicht vorgedrungen. Also die Außenperspektive, und dann ein neuer Anlauf bei der Pressestelle vielleicht? Doch die Lesung hat mich nachdenklich gemacht.

„Glücklich sein kann man teilen. Glück haben leider nicht.“ Was kann Sie heute glücklich machen?

Ganz in schwarz hatte sich Herta Müller auf die Bühne geschoben, leicht seitwärts, wie im Krebsgang, den Blick scheu gesenkt – sie kann ihn auch trotzig senken, es gibt viele Arten, und sie beherrscht sie alle, auch das verächtliche Senken und das traurige. Die Umrahmung der Lesung gibt ein langjähriger Freund, er stellt die Fragen, man merkt, sie haben sich zuvor besprochen, und dennoch ringt Frau Müller mit sich, mit den Worten und ihren Erinnerungen. Zwischendurch greift sie nach dem Buch, aus dem sie ihre Geschichte mit bedachtsam gewählten Wörtern vorlesen kann und wieder das Sprachdickicht wachsen lässt, in dem man sich als Leser verfängt. Meine geistige Machete wird jedes Mal rasch stumpf, wenn ich versuche, mich durch die Texte zu kämpfen. Mir scheint, mehr als drei Seiten am Tag schaffe ich nicht. Bin ich die einzige, der es so geht?

Falls Ihre Bücher eine Wirkung hätten – welche würden Sie sich wünschen?

„Diese Gewalt!“ sagt die Kollegin. „In den Texten! Und wie sie sich selbst Gewalt antut!“ Da hat die Kollegin recht. Herta Müller schont uns nicht, und sie schont erst recht nicht sich selbst – und gleichzeitig scheint mir die Art, das Grauen von Vertreibung und Unterdrückung sichtbar zu machen und zugleich in einen Wortnebel zu betten, ihr bester Schutz zu sein. Das kleine Mädchen, von dem sie in autobiographischen Texten und auch in Interviews erzählt, hat sich in ihr zusammengerollt und fürchtet sich vor der Aufmerksamkeit. Ein sensibles Kind, das sich „im Stich gelassen“ fühlte von den Eltern, das mit der Natur verschmelzen wollte, um dazuzugehören. Ein Kind, das mit den Pflanzen sprach und Bedeutung in den Begriffen suchte. Vielleicht gründet hier Herta Müllers ungewöhnliche Sprache, deren anrollende Wellen das Wesen der Dinge in mehreren Anläufen zu fassen versucht:
„Ich wollte nicht, dass mich in diesen Höfen jemand sieht. Dass mich jemand fragt, was ich hier tu. Ich tat nicht mehr als das, was ich sah. Ich sah die Maulbeerbäume lange an. Und dann, bevor ich wieder ging, noch einmal das Gesicht, das auf dem Stuhl saß. In dem Gesicht war eine Gegend. Ich sah einen jungen Mann oder eine junge Frau diese Gegend verlassen und einen Sack mit einem Maulbeerbaum hinaustragen. Ich sah die vielen mitgebrachten Maulbeerbäume in den Höfen der Stadt. In Lolas Heft las ich später: Was man aus der Gegend hinausträgt, trägt man hinein in sein Gesicht.“ (aus: Herztier, Frankfurt/Main 2007)

Welches Buch möchten Sie noch schreiben?

So umkreist Herta Müller ihre Themen, mäandernd oder in konzentrischen Kreisen, und das ist alles wunderbar und schrecklich, denn dass sie jetzt dort auf der Bühne sitzt und an ihrem Ring dreht oder der Armbanduhr – wann ist es endlich vorbei – das ist ihre Selbstverpflichtung ihren Freunden gegenüber, von denen sie viele hat leiden und sterben sehen und unter deren Leid sie selbst gelitten hat, angefangen bei der Erfahrung einer fünfjährigen Deportation, wie sie ihre Mutter erlebt und lebenslang verdrängt hatte.

Und wenn Sie einen Wunsch frei hätten?

Niemand im Dorf wollte mit ihr über seine Erlebnisse sprechen, niemand hatte Worte dafür, und so sprach sie mit Oskar Pastior darüber. Wie sie ihn kennenlernte, bleibt im Dunkel. Doch um seinetwillen und um des Buches – die „Atemschaukel“ -, das sie eigentlich zusammen hatten schreiben wollen, sitzt sie nun hier in der Helligkeit und weicht wortreich den Fragen aus, die wir uns stellen.

„Er fehlt mir sehr, und ich weiß, ich muss das jetzt irgendwie zuende bringen“.

Da sitzt aber nicht nur eine, die ihre Pflicht spürt, „die Sprache einer Wahrheit [zu] erfinden, die zeigt, was passiert, wenn Werte entgleisen“, die sich wünscht, die Erfahrung von erdrückenden Diktaturen, die es auch heute noch überall auf der Welt gibt, „im Gedächtnis zu halten und jenen ins Gedächtnis zu rufen, die es nicht erlebt haben“. Da sitzt auch eine, die das Leben liebt und die Sprache und die mit Worten spielt und sich kleine Extravaganzen erlaubt, wie die postkartengroßen Collagen aus Wörtern und Bildern.

Was ist Freiheit für Sie?

„Wie schrecklich“, meint die Kollegin, „sie schneidet die Worte aus und sortiert sie in Schubladen! Das sind doch bestimmt Spätfolgen dieser ständigen staatlichen Kontrolle!“ Pathologischer Ordnungswahn? Oder die hausfrauliche Überlegung, dass Papierschnipsel so schlecht abzustauben sind, wenn sie überall herumliegen? Oder die Begeisterung einer Sprachmalerin, mit Worten alle Bedeutungsnuancen herstellen zu können, weil das Material jederzeit bereitsteht? Oder das tiefe Glück, alles wiederzufinden, wenn man heimkehrt, weil kein Geheimdienst inzwischen die Wohnung durchsucht hat…

Auf welche Frage, die Sie gern beantworten würden, warten Sie noch heute?

Die Zitate von Herta Müller stammen aus ihrer Ausstellung im Literaturhaus in der Fasanenstraße in Charlottenburg, wo auch ihre Postkartencollagen zu sehen sind: Di-So 11–19, Do bis 21 Uhr, noch bis 21.11.2010, 5/3 Euro Eintritt

Sanna v. Zedlitz


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