Vor der Vergebung die Reue
Seyran Ateş klärt auf

Als es in Deutschland noch eine Arbeiterbewegung gab, da malte Hans Balluschek auf der „Roten Insel“ in Schöneberg das Bild von den Lumpensammlern, und zur gleichen Zeit sang Ernst Busch: „Roter Wedding, grüß Euch Genossen, haltet die Fäuste bereit!“

Aus dem roten Wedding kam auch Erich Mielke, und seine Art die Fäuste bereitzuhalten endete mit dem Sturm auf sein Stasi-Gefängnis in der Normannenstrasse durch die Anhänger der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Heute lebt im Wedding eine bunte Mischung von Zugewanderten. Auch jetzt werden wieder Fäuste bereitgehalten. Dies gilt aber nicht mehr dem Klassenfeind, sondern der jeweils anderen ethnischen Gruppe. Und es gilt den Frauen und Kindern aus der eigenen Familie.

Seyran Ateş kann ein Lied davon singen. Sie kam im Alter von sechs Jahren aus Istanbul zu ihrer Familie in den Wedding und erfuhr dort all jene Formen elterlicher Gewalt, die üblicherweise zur Anwendung kommen, wenn ein Mädchen sich dem patriarchalischen Herrschaftsanspruch in einer Familie widersetzt, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen will oder sogar sich nach dem Ruf des eigenen Herzens verlieben möchte. Sie durfte niemals alleine irgendwo hingehen, etwa um die Stadt zu erkunden, nach der Schule musste sie sofort nach Hause kommen, die elterlichen Weisungen wurden notfalls auch mit der Faust durchgesetzt.                                   

Doch Seyran Ateş konnte mit Mut und Entschlossenheit, aber auch dank der erlebten Solidarität ihrer Geschwister und vor allem einer Lehrerin, diesem elterlichen Gefängnis entkommen und ihren Freiheitswillen durchsetzen. Jahre-lang hielt sie sich vor den Eltern versteckt, studierte Jura und wurde Anwältin, wodurch es ihr nach ihrem Wunsch möglich wurde, anderen Frauen in ähnlich bedrängter Lage beizustehen. Und dies blieb bis heute nicht ohne Risiko auch für Leib und Leben, denn bereits zweimal wurde sie infolge ihres Engagements tätlich angegriffen und verletzt.                                                                                                                           

Die Antwort auf eine offengebliebene Frage
In unserem Bezirk endete der Emanzipationsweg einer Leidensgenossin von ihr noch vor wenigen Jahren ganz anders und tragisch. Hier in der Oberlandstrasse starb Hatun Sürücü im Kugelhagel ihrer Brüder, weil auch sie sich für ein selbstbestimmtes Leben entschieden hatte. An der Stätte ihrer Ermordung hat der Bezirk einen Gedenkstein aufgestellt, und alljährlich legt der Bürgermeister dort an ihrem Todestag einen Kranz nieder, was sich regelmäßig zu einer würdigen Menschenrechtsveranstaltung auswächst. 
                                           
Auf der letztjährigen Zusammenkunft an diesem denkwürdigen Ort lernte ich Seyran Ateş kennen. Sie gab dort einer amerikanischen Journalistin, die an einem Buch über Hatun Sürücü arbeitet, ein Interview, woran ich mich mit eigenen Fragen beteiligte. Auf die Frage, wie es denn wohl zu erklären sei, dass es zwar überall auf der Welt zu solchen Gewalttaten komme, eigenartigerweise aber aus den USA darüber nichts bekannt sei, gab sie die uns beide verblüffende Antwort, es gäbe dort keine demokratische Kultur, die derjenigen in den europäischen Ländern vergleichbar sei. In Europa ziele diese auf die allgemeine Gültigkeit der Prinzipien . In den USA aber bleibe die repressive Gruppenkontrolle unangetastet. Auf meine Rückfrage, wie dann aber die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu erklären sei, verwies sie auf den Umstand, dass es sich dabei offensichtlich um eine Gruppenerhebung gehandelt habe.

Aufklärung über das Fernsehen     
Nun gab es im August auf Arte ein Wiedersehen mit ihr. In dem sehenswerten Bericht „Mein Leben - Seyran Ateş“ erhielt ich nun auch Aufschluss über den Hintergrund ihrer damals geäußerten Ansicht. Denn der Bericht enthielt neben den bekannten Fakten auch zwei besonders bewegende Szenen, die den lebensgeschichtlichen Entstehungsgrund für ihre in dem Interview geäußerte Auffassung verdeutlichen.          
                                                               
Die eine zeigt, wie geradezu freundschaftlich ihr Umgang mit ihrer alten Gymnasiallehrerin noch heute ist. Und dafür gibt es natürlich einen Grund. Diese Lehrerin nämlich hat ihrer Schülerin über ihre Lehramtstätigkeit hinaus in einem Akt der Solidarität zu dem von ihr gewünschten Start in ein selbstbestimmtes Leben verholfen, indem sie der 18-Jährigen ihre Wohnung überlassen hat, aus der sie gerade ausgezogen war. Daher nannte Seyran Ateş sie in dieser Szene auch ihre Ziehmutter. 

Dadurch wurde mir nun auch klar, was Seyran Ateş mit ihrem Hinweis auf den Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Demokratie-Strukturen ausdrücken wollte: Die Emanzipation des Einzelnen kann nur gelingen, wenn sie nicht die Gruppe gegenüber dem Ganzen, sondern den Einzelnen gegenüber der Gruppe und dem Ganzen schützt.                                                                                            
Hierin sieht sie sich auch durch ihre Erfahrungen bei der vom damaligen Innenminister Schäuble einberufenen Deutschen Islamkonferenz bestätigt, wie sie im Fernsehen sagte. Denn nach ihrem Eindruck waren die dort versammelten Verbände nicht in der Lage, sich auf den Boden des Grundgesetzes zu stellen, das die Freiheitsrechte des Einzelnen garantiert.

Die Vergebung der Sünden                                         
Die andere bewegende Szene in dem Fernsehbericht war die Gesprächsrunde mit den Eltern. Nachdem die Mutter im Rückblick bekannte, dass sie sich über den Weg ihrer Tochter freue und sogar die Prognose wagte, dass diese wohl keinen türkischen Mann heiraten könne, weil ein solcher nach ihrer Ansicht niemals zulassen würde, dass sie eine bessere Ausbildung habe als er, hatte der Vater mit den Tränen zu kämpfen, als er sich an seine eigenen Gefühle erinerte aus jener Zeit, in der ihm sei-ne Tochter in die Emanzipation entkam. Die Tochter aber wendete  sich ihm mit einem sowohl glücklichen als auch verständnisvollen Lächeln zu und reichte ihm mit einem Kuss die Hand. “Ich habe meine Eltern immer mitnehmen wollen, so weit es geht, “sagte sie in die Kamera. Wann hätten wir so etwas je aus dem Munde der Faustkämpfer um Erich Mielke gehört? Seine Stasi-Generäle behaupten noch heute, sie hätten nur mit den dafür notwendigen Mitteln für die Arbeiter und Bauern des Landes gekämpft. Doch die Opfer aller Arten von Gewalt wissen es besser. Sie verlangen von ihren Peinigern zu Recht die Wiedereinsetzung in ihre unveräußerlichen Menschenrechte. Und dafür gibt es nur einen einzigen Weg: Die Täter haben ihre eigene Schuld anzuerkennen, und zwar nicht nur für sich in schlaflosen Nächten, sondern in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Sie haben ihre Übergriffe unter der Zeugenschaft der Öffentlichkeit zu bereuen und den Opfern Sühne anzubieten.      
                                                                                             
Seyran Ateş und ihre Eltern haben gezeigt, wie daraus Vergebung möglich wird und auch Wiedervereinigung. Die Stasi-Generäle aber werden bis in alle Ewigkeit vergeblich darauf warten,  denn sie verlangen bis heute von ihren Opfern Verständnis, anstatt  die Opfer zu verstehen. Mit ihnen wird es daher auch keine Wiedervereinigung geben. Sicher wird diese Sendung eines Tages auf einem der öffentlichrechtlichen Sender wiederholt. Sie lohnt das Einschalten nicht nur für den interessierten Zuschauer, sie ist auch für den Schulunterricht bestens geeignet.

Ottmar Fischer
 

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Oktober 2010  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis