"Armutsfähigkeit"
 
 
(Zum Porträt "Menschen in der VHS", Stadtteilzeitung September 04, S. 12)

Ich bin in den Dreißigern aufgewachsen, in einer Anderthalbzimmerwohnung mit Ofenheizung, ohne Bad, Klo auf dem Treppenflur. Gewaschen haben wir uns in der Küche, in einer Schüssel auf einem Küchenstuhl. Als ich noch kleiner war, wurde in der Küche ein Zuber mit warmem Wasser gefüllt, das war dann mein Bad. Später ging ich mit meiner Mutter zum Wannenbad in die Badeanstalt. Ich hatte kein eigenes Zimmer, und wir hatten kein Telefon und kein Auto. Die Straßen waren auch nicht vollgepflastert mit geparkten Autos; wer ein Auto besaß, besaß auch eine Garage. Meine Mutter hatte keinen Kühlschrank und keine Waschmaschine, die große Wäsche erledigte sie in der Waschküche in Kittelschürze und Gummistiefeln: Wäschekochen im eingebauten Kupferkessel unter Holzfeuer, Wäscheschrubben auf dem Waschbrett, Spülen mit dem Gummischlauch (deshalb die Gummistiefel). Meine Mutter war eine flotte, moderne Frau, trug eine Herrenschnittfrisur und kleidete sich schick mit selbstgenähter Garderobe. Auch ich wurde von ihr mit hübschen Kleidern versorgt. Sie kochte einfach und gut. Zum Frühstück machte sie mir Bircher-Müsli aus Haferflocken, Zitronensaft, geriebenem Apfel und Nüssen. Mein Vater war Kaufmann und nicht arbeitslos, im Gegensatz zu einigen meiner Onkel. Die bewohnten mit ihren Familien und meiner Großmutter alle zusammen eine Dreizimmerwohnung, jeder ein Zimmer, damit es billiger war. Waren wir arm?

Heute wohne ich allein in einer Zweizimmerwohnung mit Bad und Gasheizung, besitze sowohl Kühlschrank als auch Waschmaschine, von diversen elektrischen Küchengeräten ganz abgesehen. Ich koche einfach und gut. Ich habe einen Fernseher, einen Videorecorder, einen Plattenspieler, eine Anlage, ein Handy, einen Computer und auch ein Auto (alt). Ich beziehe eine mittlere Rente und unterstütze arbeitslose Familienmitglieder. Bin ich reich? Waren wir damals "armutsfähig"? Wäre ich es heute? Was ist das überhaupt?

Wie war denn das nach Kriegsende, als der Wiederaufbau voranging und das sog. Wirtschaftswunder, erst im "Westen", später auch in West-Berlin über uns hereinbrach? Als die Massenproduktion uns mehr oder weniger preiswert mit allen Gütern versorgte, die wir brauchten, und dann kraft Werbung auch mit denen, von denen wir erst lernen mussten, dass wir sie brauchen. Schuldenmachen wurde gesellschaftsfähig. Ich vermute mal, Herr Ratzel meint, man solle sein Selbstverständnis nicht aus seinen Besitztümern beziehen, man solle vielleicht auch nicht an Dingen hängen, die man sich nicht (mehr) leisten kann, sein "Glück" nicht abhängig machen vom Konsumieren. Schließlich kann man auch ohne Geld und Besitz glücklich sein - mit allerdings auch. Wir müssen also jetzt lernen, ohne Konsum glücklich zu sein, Konsumverzicht zu leisten. Das ist sicher schwieriger, als das Kaufen zu lernen. Zumal wir ja auch immer noch von allen Seiten eingehämmert bekommen, wie wichtig das Kaufen sei, um die Wirtschaft "anzukurbeln", wo uns das "Shoppen" in schicken Einkaufzentren als lustvoller Zeitvertreib eingeredet wird. Aber das gilt vielleicht nur für diejenigen, die noch Arbeit haben, die groß verdienen, die im Leben nie Arbeitslosengeld oder gar Sozialhilfe bezogen haben - die Tüchtigen, die "Besseren"? Wir dagegen müssen "armutsfähig" werden, d.h. lernen, es auszuhalten, uns nichts mehr leisten zu können, das "Beste" daraus zu machen, "arm aber glücklich" zu werden. Wir sollten vielleicht auch nicht gegen die soziale Ungerechtigkeit kämpfen; schließlich wird uns ja immer wieder vorgehalten, wie "verwöhnt" wir waren und wie viel schlechter es den Menschen in Indien oder Afrika geht. Und die können auch lachen....

Da brauchen wir vielleicht einen Guru, der uns sagt, was unsere wahren Bedürfnisse sind, der selbst Studium und dann festen Arbeitsplatz hingeschmissen hat, um uns die neue "Befreiungsbotschaft" zu bringen: Armutsfähigkeit! Irgendwie erinnern mich Herrn Ratzels neue Formen gesellschaftlichen Miteinanders an die Notgemeinschaften im Luftschutzkeller, die in dem Moment auseinanderbrachen, als die Not vorbei war. Manche seiner Ideen scheinen mir auch Hand und Fuß zu haben - den Begriff "armutsfähig" allerdings finde ich hanebüchen: Nicht kämpfen, nicht klagen - ertragen!
Wie sagte doch Erich Kästner: Was immer auch geschieht - so tief dürft ihr nie sinken - den Kakao, durch den man euch zieht - auch noch zu trinken!

Sigrid Wiegand
Redaktion Stadtteilzeitung

Oktober 2004  StadtteilzeitungInhaltsverzeichnis