Die Stolperstein-Initiative Stierstraße Friedenau

Bewohnerinnen und Bewohner der Stierstraße und aus der Nachbarschaft in stillem Gedenken. Foto: Thomas Protz

Das Gedächtnis einer Straße

Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg war für einige von uns der Anlass, unsere Gruppe zu gründen, denn hier stießen wir erstmals im Frühjahr 2005 auf zahlreiche Namen von Deportierten aus der Stierstraße. Viele der Deportierten haben auf dem Gelände gelebt, auf dem sich heute die Kirche und das Gemeindehaus der  Philippusgemeinde befinden, also in der Stierstraße 17 bis 19.

Am Israelsonntag im August 2005 fand in der Philippuskirche ein gemeinsamer Gottesdienst mit Rabbiner Nachama statt. Beim anschließenden Gespräch erzählte Lisa Reineke von den drei Stolpersteinen, die sie einige Wochen vorher in Eigeninitiative vor der Nr. 3 hatte legen lassen. Wir beschlossen, eine Initiativgruppe für Stolpersteine für die Deportierten aus der Stierstraße Nr. 18/ 19 (Philippusgemeinde) zu gründen, die dann im März 2006 zum ersten Mal zusammenkam, sich aber nicht nur aus Gemeindemitgliedern zusammensetzte. Die Gruppe umfasste etwa 12 Personen, was auch heute noch so ist, auch wenn im Laufe der Zeit manche ausschieden, neue hinzukamen.

Unsere Arbeit begann mit Recherchen zu den Namen von Juden, die in der Stierstraße 17-19 gelebt hatten und als deportiert galten. Wir forschten einzeln oder in kleinen Gruppen in den verschiedenen Archiven. Nach einigen Monaten Arbeit entschieden wir uns, die Ergebnisse in einer Broschüre zusammenzufassen und zu einer Informationsveranstaltung einzuladen. Diese fand im Juli 2007 im großen Saal im Gemeindehaus statt und war ein großer Erfolg. Ebenfalls im Juli 2007 wurden 2 Steine vor der Stierstraße Nr. 15 verlegt.

16 weitere Steine wurden im Juli 2008 vor der Philippuskirche gelegt, sowie 2 Steine vor dem Haus Nr.16. (Hier übernahm die Schule am Perelsplatz die Patenschaft und gestaltete auch die Einweihung.) Nach der Informationsveranstaltung und der Fertigstellung der Broschüre im Jahr 2007 beschlossen wir, auch für die Deportierten aus der Stierstraße Nr. 20/21 Stolpersteine zu legen und begannen mit den Recherchen.
Die Verlegung der 16 Stolpersteine vor der Stierstraße 4, 20 und 21 fand am 21. September 2009 statt.

Für 39 Menschen liegen nun in der Stierstraße in Friedenau Stolpersteine. Wir haben viel über die Lebenswege und Schicksale der Opfer erfahren. Unsere intensiven Nachforschungen ergaben gleichfalls Kontakte mit Verwandten und Nachkommen der Deportierten und Ermordeten, die meistens mit Zustimmung und Unterstützung auf unsere Arbeit und die Stein-Verlegungen reagierten. Mit vielen korrespondieren wir oder haben sogar persönlichen Kontakt. So zum Beispiel mit Angehörigen des Ehepaars Minna und Ruben Riesenburger aus Israel und USA, die eines unserer Mitglieder persönlich im Frühling 2009 kennen lernen durfte.


Stolpersteine für Minna und Ruben Riesenburger. Foto: Thomas Protz

Ruben und Minna Riesenburger und Tochter Betty

Ruben (eigentlich: Robert) Riesenburger, geboren am 17.7.1873, war im Ersten Weltkrieg  ein hoch dekorierter Pilot. Er war so berühmt, dass es Sammelbilder mit seinem Bild gab.

Er stammte aus Briesen, wo er ein großes Tabakgeschäft betrieb. Das Ehepaar Ruben und Minna Riesenburger (geb. 2.2.1862) zog mit der 1904 geborenen Tochter Betty vermutlich Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin-Lichtenberg und 1935 nach Wilmersdorf (in die Rauenthalerstr.). 1936 und 1937 hatten sie ein Tabakgeschäft in der Stierstraße Nr.22, ab 1939 waren sie gemeldet in der Nr.20. (Vermutlich war das Geschäft in der Pogromnacht im November 1938 zerstört worden und zwar dort, wo sich zur Zeit eine Gardinen- und Polsterwerkstatt befindet.)

Das Ehepaar musste - vermutlich 1940, nachdem den Juden 1939 der Mieterschutz aberkannt wurde - zur Untermiete in die Stierstraße 21, Seitenflügel, dritte Etage - zum Ehepaar Irmgard und Georg Krayn ziehen.

Ruben und Minna Riesenburger wurden im Januar 1943 im Alter von 69 bzw. 80 Jahren nach Theresienstadt deportiert. Dort ist Minna Riesenburger im April 1943, Ruben Riesenburger ein Jahr später im April 1944 umgekommen.

Die Tochter Betty war zur Zeit der Deportation ihrer Eltern mit Alfred Oppenheim verheiratet. Betty und Alfred emigrierten 1938 oder 1939 nach Shanghai.

Bettys zweiter Mann, Berthold (Bert) Cohn stammte aus Nordhausen im Harz. Er wurde in der „Kristallnacht“ 1938 verhaftet und nach Buchenwald gebracht, von wo er im November wieder entlassen wurde mit der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen. Per Schiff fuhr er via Suez Kanal nach Shanghai, wo er bis 1947 blieb. Sein Bruder Heinz hatte Deutschland bereits 1933 verlassen und lebte in Palästina. Seine Schwester Lotte war ebenfalls nach Shanghai geflohen und ging mit ihrem Mann, Hans Schwarz, 1948 in die USA.

Berthold Cohn arbeitete in der Amerikanischen Armee, die die Chinesen gegen die japanische Armee, die China angegriffen hatte, unterstützte, sowie in einem Vertriebenen-Camp. Dort lernte er Betty und ihren Mann Alfred Oppenheim, der sehr krank war, kennen.

Nach dem Tod von Alfred Oppenheim heirateten Betty und Bert am 18. August 1946. Im Februar 1947 wurde Betty schwanger. Sie wünschten sich sehr, dass das Kind amerikanischer Staatsbürger würde, weshalb sie sich kurzfristig nach USA einschifften. Wegen eines Taifuns landete das Schiff jedoch in Hawaii, wo es den Sturm abwarten sollte. Betty und Bert wurde angeboten, das Schiff zu verlassen, doch da Hawaii damals noch kein US-Staat war, lehnten sie das Angebot ab. So landete das Schiff am 31. Oktober 1947 in San Francisco. Betty wurde sofort ins Mount Zion-Hospital gebracht, wo 7 Stunden später, am 1. November, ihr Sohn Robert George Cohn, geboren wurde.

Da sehr viele jüdische Flüchtlinge in San Francisco gelandet waren, konnten sie dort nicht alle untergebracht werden. Man bot den Flüchtlingen verschiedene Orte an, unter anderem  Kansas City, Missouri. Betty und Bert entschieden sich für Kansas City, wo Robert groß wurde und wo er heute noch mit seiner Frau Lorena Faye wohnt.

Petra T. Fritsche
für die Stolperstein-Initiative Stierstraße Berlin-Friedenau

Bildergalerien von den Gedenkveranstaltungen der Stolperstein-Initiative:
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